Montag, 16. Januar 2017

Der Abgrund in der Literatur - dürft gerne kommentieren!

Zwei Artikel habe ich  zuletzt interessiert gelesen. Sie haben mich angeregt, über mein Schreiben nachzudenken. Der erste war ein Text von Sophie Weigand über den Abgrund in der Literatur.
Die letzten zwei Jahre habe ich beinahe jeden Prosa-Text vor einem gefühlten Abgrund geschrieben. Ich frage ich mich, ob es gelungen ist, diesen Abgrund in den Texten auftauchen zu lassen.

Ich poste Euch mal den Beginn einer Erzählung die ich dieses Jahr auf der Schreibalm - Werkstatt geschrieben habe.

Da kommt der Adel

Irgendwo zwischen dem Friedhof der ungeborenen Kinder und dem Grab meiner Eltern lief sie mir über den Weg. Besser gesagt, sie sprach mich an. Greta von Kotzebue. Was macht eine wie die am Friedhof, fragte ich mich. Sie sah ganz passabel aus und war höchstens 20 oder 29. Sie grüßte mich und stellte mir dieselbe Frage. 
"Bist du nicht etwas zu jung für Friedhöfe?" 
Was soll ich sagen? Ich glaube, ich habe seit Jahren auf so etwas gewartet. Ich meine, auf eine schöne junge Frau wartet man ja immer, aber eine die genau die Frage stellt, die sich niemand zu stellen traut, das war schon ungewöhnlich. Das war so eine Art Dammbruch. Eigentlich wusste ich genau, dass man jungen schönen Frauen nicht gleich die Geschichte vom toten Hund erzählt und die vom toten Kind erst dreimal nicht. Aber Greta hatte gefragt und machte keine Anstalten, mir nicht interessiert zuzuhören. Also setzten wir uns auf eine der Bänke im Waldfriedhof. Die Vögel zwitscherten aggressiv und beinahe wäre es schön gewesen. Ich erzählte Greta von Kotzebue vom Krebs und wie der meine Eltern aufgefressen hat. Und von Katharina, die damals unser Kind verlor, weil sie das alles nicht aushalten konnte. Ich betonte, dass Katharina jetzt in Bielefeld wohnte, um klarzustellen, dass es nichts mehr zwischen mir und Katharina gab. Außer dieser kleinen feuerbestatteten Pappschachtel im Grab der ungeborenen Kinder. Greta sagte erst, als ich ihr so ziemlich alles was es über mich zu wissen gab, gesagt hatte, dass sie für ihren Blog recherchiere. Dass sie etwas über den Tod bringen wolle, aber sie wisse noch nicht genau was. Aber es sei richtig gewesen, sich mal auf dem Friedhof umzuschauen, sagte sie und tippte mir dabei irgendwie auf das Bein und sofort zuckte etwas in mir zusammen. Sie sagte, sie wolle mir etwas zeigen und weil ich unbedingt wollte, dass sie mir etwas zeigte, folgte ihr durch die Reihen aus Grün und Gräbern. 
"Das ist unsere Familiengruft", sagte sie. "Hier werde ich irgendwann mal liegen. Vermutlich mit 27", sagte sie, lachte und zündete sich eine Zigarette an. So erfuhr ich, dass Greta einen Adelstitel trug. Sie erzählte, dass ihre Familie irgendwie von August von Kotzebue abstammte. Dem Dichter, den einer in Mannheim erstochen hatte. 
"In Mannheim, da habe ich mal gelebt", sagte ich. 
"Ich nicht." Sie schüttelte den Kopf. Greta sagte, sie lebe jetzt in Wien. Und ihr Blog sei recht erfolgreich, sie könne die Miete davon bezahlen. Dann lachte sie und meinte, die Mieten in ihrem Bezirk seien aber auch recht günstig. 
Sie schnippte die Kippe auf ihre Familiengruft. Ich schaute ihr dabei scheinbar perplex zu. "Die Toten interessiert das doch nicht mehr", erwiderte sie. 
Ich begleitete sie zum Parkplatz. Sie kramte einen Füllfederhalter aus der Tasche und hielt mir ein Moleskin hin. Den Füllerdeckel im Mundwinkel nuschelte sie, ich solle ihr meine Handynummer geben. "Damit ich dir den Entwurf des Artikels schicken kann", sagte sie. "Darf ich deinen Namen verwenden? Wie heißt du eigentlich mit vollem Namen?" "Hans", sagte ich. "Hans Irlbach." 
"Ich melde mich", rief sie mir aus der heruntergelassenen Fensterscheibe ihres Autos nach und verschwand. 
Da kommt der Adel, dachte ich mir eine Woche später, als ich im Café Lenz auf sie wartete. 

To be continued

Die Methode, die ich in diesem Fall auswählte, war ein fiktiver Text, inspiriert von den Ereignissen um mich herum. 
Derzeit gibt es andererseits eine Diskussion, ob die neuen großen Texte nicht alle autobiographischer Natur sind. Peter Praschl schreibt in der Welt, dass ihn Romane langweilen und er lieber über das geballte, das wirkliche Leben lesen will. Als Referenzen nennt er die wuchtigen Werke von Knausgard, Melle und Stuckrad-Barre.
Der autobiographische Gehalt meiner Texte schwankt stets. Dies ist einer, den man als autobiographisch bezeichnen könnte:

Toskana


Sofort waren das Morgenlicht, die uralten Felder und die toskanischen Hügel zerrissen. Da war nur noch das tote Kind und meine weinende Schwester. Ich trug noch immer meine verschwitzten Laufsachen und diese schwarze Leere, die seit einigen Tagen zu schwinden begann, war wieder da. Schwer und unaussprechlich. Unten kochte Stella Kaffee. Wie jeden Morgen. Wie schon Jahre zuvor, als ich hier immer glücklich war. Ich sage es ihr. Worte umschreiben einen Sachverhalt. Sie schaut verständnisvoll, wie sie immer schaut. Aber ein Mensch kann das Unsägliche nicht verstehen und ich überlege, meinem Standpunkt Nachdruck zu verleihen, indem ich mich heulend auf dem roten Boden wälze. So wie ich auf den letzten Beerdigungen fantasierte, mich schreiend in das Grabloch zu stürzen. 
Stella wird es Arwed erzählen. Ich werde das Unsägliche kein zweites Mal aussprechen. Sie sollen verstehen, dass es ein Wunder ist, dass wir hier sind. Dass wir nur einen Tag toben und weinen werden. Dass wir die angepasstesten Menschen der Welt sind. Aber da ist nichts als die lähmend schöne Landschaft und das Grauen, das zur Stunde 700 Kilometer entfernt zu Hause weiter tobt. 
Ich werde darüber schreiben wie mein Großvater fast gestorben wäre. Aber es wird nur ein müdes, längst vergangenes Unheil im Vergleich zur Gegenwart sein. Weltkrieg hin oder her, der Krieg, die Toten haben meine Familie längst zersetzt. 
L. flüchtet sich in ihre Handywelt und sie fügt sich erschreckend in das Muster der heiteren, unbedarften Mädchen, die ich in meinen Stürmen gesucht habe. Ihr braucht man nichts vom Tod erzählen. Sie ist eine junge Mädchenblüte und kein Schatten auf ihr außer meiner. 
Bald werde ich Ronja von Rönne wiedersehen und sie wird nie erfahren, dass sie mich nur als Kriegsversehrten kennenlernte. Und ich denke darüber nach, ob es ihr egal ist, oder ob sie etwas von L. unterscheidet. Vielleicht alles. 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen