Montag, 12. Dezember 2016

Die Toten auf dem Rücksitz (1): Pfeil und Bogen

Die letzten Jahre vor seinem Tod war mein Vater wieder ein Junge geworden. Er fuhr stundenlang mit dem Rad durch die Landschaft, legte sich an einem sonnigen Plätzchen in die Wiese oder staute das Wasser des Baches hinter seinem Haus auf, damit er darin schwimmen konnte. Es gab keinen Einfluss einer Frau mehr, die ihn an die Gepflogenheiten erwachsener Menschen unseres Kulturkreis erinnerte und so hauste mein Vater in bescheidenen, andere sagten, ärmlichen Verhältnissen, wie er es auch als Junge in den Nachkriegsjahren getan hatte.
Seit seinem Tod versuchte ich zu verstehen, warum er diesen Weg für sich gewählt hatte und gelangte immer wieder zu dem unbefriedigenden Ergebnis, dass ihn diese Lebensweise glücklich gemacht hatte.
Anders als beim Tod meiner Mutter hatte ich keine Möglichkeit, mich von meinem Vater zu verabschieden, als er sich, wie es so seine Art war, ohne große Worte zu verlieren, dieser unserer Welt, die nicht mehr die seine war, zu entziehen. Ich wartete verstört im sterilen Flur der Intensivstation und wusste noch nicht, dass er längst neben mir saß.
Ohne eine Zeremonie und unter dem Zeitdruck des Unternehmens wurde drei Tage später die Maschinerie in Gang gesetzt, die seinen Sarg in einen Industrieofen fuhr, wo er hinter einer massiven Türe in einer glühenden Hitze verschwand.
Draußen vor dem Gebäude schaute ich noch eine Weile zu, wie weißer Rauch aus dem Kamin in den Himmel stieg.
Einige Wochen später, als es Frühling wurde, spazierte ich über das Grundstück meiner Kindheit. Wie immer, wenn ich das leere Haus besuchte, um das eine oder andere Aktenstück zu suchen, oder die Zimmer zu lüften, hatte ich dieses unbestimmte Gefühl, dass mein Vater noch immer dort lebte und nur auf einer längeren Radfahrt unterwegs war.
In der Wiese vor dem Haus entdeckte ich im vom Schnee noch plattgedrückten Gras einen Gegenstand. Ich hob ihn auf und erkannte das alte Taschenmesser meines Vaters, das dieser vor Jahrzehnten einmal verloren hatte.
Der Schaft war schon damals verwittert gewesen. Ich zog die Klinge heraus. Sie war an den Seiten etwas angerostet.
Während ich das Messer betrachtete, erinnerte ich mich daran, dass mein Vater das Messer in meiner Gegenwart oft benutzt hatte, wenn er mir einen Pfeil oder einen Bogen baute.
Das Messer war unweit des alten Hollunderstrauches gelegen, aus dem er damals die Pfeilspitzen geschnitten hatte. Der Baum, der eigentlich vor Jahren schon abgestorben war, stand in diesem Frühling wieder in voller Blüte. Ich testete die Schärfe der Klinge und es gelang mir, problemlos einen Ast von der Hollerstaude herunter zuschneiden.
So wie es mir mein Vater damals gezeigt hatte, schnitzte ich mir eine Pfeilspitze daraus.
Für den Pfeil benötigte ich Schilf. Mein Vater hatte früher stets größere Mengen Schilf auf dem Speicher über der Garage aufbewahrt. Ich ging zurück zum Haus und setzte die Leiter unter die Türe zum Garagenspeicher und kletterte hinauf. Hinter der Tür schlug mir ein modriger Geruch entgegen. Zwischen Styroporplatten und Brettern entdeckte ich tatsächlich ein Bündel Schilf und zog ein Schilfrohr heraus. Dabei sah ich unter den Styroporplatten meinen alten Bogen hervor lugen. Verwundert, dass dieser immer noch existierte, nahm ich ihn und kletterte die mit jedem Schritt vibrierende Leiter wieder herunter.
Mit gezielten Schnitten ins Schilf bastelte ich mir einen Pfeil zurecht und während ich in die Arbeit vertieft war, blickte mir mein Vater dabei über die Schultern.
Den fertigen Pfeil spannte ich in den Bogen, der trotz der 20 Jahre, die er inzwischen alt war, noch genau so geschmeidig war wie in meinen Kindertagen.
Ich zielte mit dem Pfeil in den Himmel und stellte mir vor, dass dort oben irgendwo mein Vater saß.
Mit einem lauten Zischen schoss der Pfeil in die Luft und stieg höher und höher, bis er verschwunden war. Eine Katze miaute und zwischen meinen Beinen schmiegte sich eine schwarz weiß gefleckte Katze, die exakt so aussah wie die Lieblingskatze meines Vaters.
Ich hob sie hoch und sie sah mich mit grünen Katzenaugen an. Die Katze bewegte ihren Mund und sagte: "Es ist jetzt gut. Du darfst mich nun loslassen." Erschrocken warf ich die Katze zu Boden und sie verschwand zwischen den Büschen.
Dies war in derselben Woche passiert, als ich das Haus zum Verkauf ausschreiben ließ. Ich werde die Käufer des Hauses bitten, sich um die Katze zu kümmern.

4 Kommentare:

  1. Da die Jungs inzwischen richtig starke Texte posten, stecke ich in einem Dilemma fest: Was posten, wenn ich, wie gehabt kaum Zeit für neue Texte habe? Zudem bevorzugt der Herr Schriftsteller seit jeher epische Texte nicht unter 20 Seiten. Bleibt mir nichts anderes übrig, als die alten Moleskine zu entstauben und dortige Textfunde zu redigieren - wie Matthias es vorgemacht hat und auch hier geschehen ist. Kurz spielte ich mit dem Gedanken, da die werten Autorenkollegen noch Mitte Zwanzig sind, meine Texte ebenselben Alters aus dem Keller zu holen. Doch spielen diese Geschichten einerseits in einer Smartphone-losen Zeit ohne Facebook und WLAN, also in einer nicht mehr nachvollziehbaren utopischen Ära. Andererseits muss ich neidlos anerkennen, dass die jungen Literaturhoffnungen hier sowas von besser sind als ich damals...

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  2. Berührend, die Erinnerungen an deinen Vater.

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  3. Guter Einstieg, die ersten zwei Sätze packen den Leser direkt hinein in den Text. Den Erzählstil finde ich für eine Kurzgeschichte etwas zu langsam und abschweifend, viele Sätze wirken sperrig und zu erklärend, um den Leser mitzunehmen. Thematisch natürlich spannend, egal ob biographisch oder fiktiv. Die Erzählstimme ist mir aber für einen Ich-Erzähler im Angesicht des Verlusts zu distanziert, die Sätze zu konstruiert und wenig emotional, ist der Ich-Erzähler nicht traurig, wütend, orientierungslos auf eine Art und Weise? Es gibt einige Stellen, die dem Text weder inhaltlich noch atmosphärisch wirklich etwas hinzufügen, z.B. der Ablauf der Beerdigung, viel interessanter wären meiner Meinung nach, was der Ich-Erzähler beim Weg zur Beerdigung denkt, skurrile Dinge, die ihn an seinen Vater erinnern, eben Aussagen, die nicht so leicht austauschbar sind und die Beziehung zwischen den beiden charakterisiert. Die surrealen Einsprengsel gegen Ende (plötzlich wieder blühende Strauch, sprechende Katze) kann man machen, finde ich persönlich sogar manchmal ganz interessant, bin allerdings der Meinung, dass man das dann konsequent von Anfang an machen sollte, also schon früher im Text solche Elemente einbauen, damit der Leser nicht erst kurz vor Schluss diesen wtf-Moment hat. Zwischendurch sehr schöne Sätze ("Ich wartete im Flur der Intensivstation und wusste noch nicht, dass er längst neben mir saß")

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  4. Hey, Matthias - welcome back! Auf genau solche konstruktive Kritik habe ich gehofft. Tausend Dank dafür. Mein ewiges Ringen mit dem Erzählstil. Hab mich noch nicht ganz damit abgefunden, ein langsamer Erzähler zu sein. Hätte nicht so viel Thomas Mann lesen sollen. Thema der Schreibübung war übrigens "Magischer Realismus". Genau wie die Sache mit dem unzuverlässigen Erzähler ist mir inzwischen schon klar, dass man das gleich am Anfang anreissen muss und stabil durchhalten. Mit der Katze hoffte, ich mehr weibliche Leser auf die Seite zu locken. Haha.

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