Montag, 12. Dezember 2016

Die Toten auf dem Rücksitz (1): Pfeil und Bogen

Die letzten Jahre vor seinem Tod war mein Vater wieder ein Junge geworden. Er fuhr stundenlang mit dem Rad durch die Landschaft, legte sich an einem sonnigen Plätzchen in die Wiese oder staute das Wasser des Baches hinter seinem Haus auf, damit er darin schwimmen konnte. Es gab keinen Einfluss einer Frau mehr, die ihn an die Gepflogenheiten erwachsener Menschen unseres Kulturkreis erinnerte und so hauste mein Vater in bescheidenen, andere sagten, ärmlichen Verhältnissen, wie er es auch als Junge in den Nachkriegsjahren getan hatte.
Seit seinem Tod versuchte ich zu verstehen, warum er diesen Weg für sich gewählt hatte und gelangte immer wieder zu dem unbefriedigenden Ergebnis, dass ihn diese Lebensweise glücklich gemacht hatte.
Anders als beim Tod meiner Mutter hatte ich keine Möglichkeit, mich von meinem Vater zu verabschieden, als er sich, wie es so seine Art war, ohne große Worte zu verlieren, dieser unserer Welt, die nicht mehr die seine war, zu entziehen. Ich wartete verstört im sterilen Flur der Intensivstation und wusste noch nicht, dass er längst neben mir saß.
Ohne eine Zeremonie und unter dem Zeitdruck des Unternehmens wurde drei Tage später die Maschinerie in Gang gesetzt, die seinen Sarg in einen Industrieofen fuhr, wo er hinter einer massiven Türe in einer glühenden Hitze verschwand.
Draußen vor dem Gebäude schaute ich noch eine Weile zu, wie weißer Rauch aus dem Kamin in den Himmel stieg.
Einige Wochen später, als es Frühling wurde, spazierte ich über das Grundstück meiner Kindheit. Wie immer, wenn ich das leere Haus besuchte, um das eine oder andere Aktenstück zu suchen, oder die Zimmer zu lüften, hatte ich dieses unbestimmte Gefühl, dass mein Vater noch immer dort lebte und nur auf einer längeren Radfahrt unterwegs war.
In der Wiese vor dem Haus entdeckte ich im vom Schnee noch plattgedrückten Gras einen Gegenstand. Ich hob ihn auf und erkannte das alte Taschenmesser meines Vaters, das dieser vor Jahrzehnten einmal verloren hatte.
Der Schaft war schon damals verwittert gewesen. Ich zog die Klinge heraus. Sie war an den Seiten etwas angerostet.
Während ich das Messer betrachtete, erinnerte ich mich daran, dass mein Vater das Messer in meiner Gegenwart oft benutzt hatte, wenn er mir einen Pfeil oder einen Bogen baute.
Das Messer war unweit des alten Hollunderstrauches gelegen, aus dem er damals die Pfeilspitzen geschnitten hatte. Der Baum, der eigentlich vor Jahren schon abgestorben war, stand in diesem Frühling wieder in voller Blüte. Ich testete die Schärfe der Klinge und es gelang mir, problemlos einen Ast von der Hollerstaude herunter zuschneiden.
So wie es mir mein Vater damals gezeigt hatte, schnitzte ich mir eine Pfeilspitze daraus.
Für den Pfeil benötigte ich Schilf. Mein Vater hatte früher stets größere Mengen Schilf auf dem Speicher über der Garage aufbewahrt. Ich ging zurück zum Haus und setzte die Leiter unter die Türe zum Garagenspeicher und kletterte hinauf. Hinter der Tür schlug mir ein modriger Geruch entgegen. Zwischen Styroporplatten und Brettern entdeckte ich tatsächlich ein Bündel Schilf und zog ein Schilfrohr heraus. Dabei sah ich unter den Styroporplatten meinen alten Bogen hervor lugen. Verwundert, dass dieser immer noch existierte, nahm ich ihn und kletterte die mit jedem Schritt vibrierende Leiter wieder herunter.
Mit gezielten Schnitten ins Schilf bastelte ich mir einen Pfeil zurecht und während ich in die Arbeit vertieft war, blickte mir mein Vater dabei über die Schultern.
Den fertigen Pfeil spannte ich in den Bogen, der trotz der 20 Jahre, die er inzwischen alt war, noch genau so geschmeidig war wie in meinen Kindertagen.
Ich zielte mit dem Pfeil in den Himmel und stellte mir vor, dass dort oben irgendwo mein Vater saß.
Mit einem lauten Zischen schoss der Pfeil in die Luft und stieg höher und höher, bis er verschwunden war. Eine Katze miaute und zwischen meinen Beinen schmiegte sich eine schwarz weiß gefleckte Katze, die exakt so aussah wie die Lieblingskatze meines Vaters.
Ich hob sie hoch und sie sah mich mit grünen Katzenaugen an. Die Katze bewegte ihren Mund und sagte: "Es ist jetzt gut. Du darfst mich nun loslassen." Erschrocken warf ich die Katze zu Boden und sie verschwand zwischen den Büschen.
Dies war in derselben Woche passiert, als ich das Haus zum Verkauf ausschreiben ließ. Ich werde die Käufer des Hauses bitten, sich um die Katze zu kümmern.

Freitag, 2. Dezember 2016

Diesmal gibt es Lyrik von Radolfo B. Enzensberger

Für Hammer und Meißel wäre er bereit. 
Da sich versteinerte Glieder nicht bewegen.
Unverkennbar, dass er sich nicht verzeiht. 
Doch ein verkrüppelter Besen kann nicht fegen.
Zu vergänglich sind seine Gedanken. Im Gegensatz zu seinen Taten. 
Die Erkenntnis zu warten, 
und zu stehen,
ja, wankend,
zu sehen, dass er mit einem Flehen
wusste, dass es Zeit war zu gehen.
Weg von dem, aber dennoch bleiben,
die Schuhe aus Lehm,
der Geist zu beneiden.
Nichts zu vermissen, nichts kann zu bleiben verleiten,
denn die, die er liebt, werden ihn begleiten,
werden wissen, auch wenn er das Buch ist, sind sie die Seiten.
Als er wieder kam, war er noch immer dort,
die Wölfe zahm und der Regen fort,
Geld war nur ein Papier, 
seine Kleidung nur Stoff,
da war ein ihr ein wir,
und ein nicht wieder ein noch.

Donnerstag, 24. November 2016

Früher war mehr Anthrazit

Ich nehme Fabians Anfang mal als Anlass, mir ebenfalls ein bisschen Vergangenheitsarbeit anzutun. Solche Anfänge sind ja immer auch ein Blick zurück, bevor man sich nach vorne rettet, also habe ich mir einen Vormittag geschnappt und alte Texte ausgegraben, widerwillig gelesen, umgeschrieben, zeitweise verzweifelt, habe mein früheres Ich zwischenzeitlich ziemlich peinlich gefunden, einen ganzen Absatz für immer gelöscht, panisch "löschen rückgängig machen"geklickt, nur um ihn dann endgültig zu verwerfen, mit dem Anspruch: Längen kürzen, Handlung straffen, Sprache aufrauen, Pathos minimieren, und am Ende standen da zwei frisch polierte neue Absätze, von wegen alles auf das Wesentliche reduzieren. Manchmal muss man einsehen, dass ein Text sich damals genau richtig angefühlt hat und mittlerweile nichts mehr davon übrig ist, dann muss man das akzeptieren und ihn im Imperfekt stehen lassen ohne fieberhaft zu versuchen, das Gefühl mit neuen Sätzen zurückzuholen. Und relativ selten gibt es Texte, die irgendwie immer gültig bleiben und ihre Aussage über die Zeit retten, vielleicht weil sie etwas beschreiben, das man immer wieder erlebt oder zumindest in ähnlicher Form erleben könnte, egal ob man frisch 18 oder mittlerweile 26 ist, vielleicht weil sich an der Situation, dem Gefühl, den Umständen seitdem fast nichts verändert hat und die Vergangenheit immer noch in die Gegenwart hineinragt, aber egal warum, das sind die Texte, an denen man noch ein paar Kleinigkeiten ändern kann, die einem vor ein paar Jahren noch nicht aufgefallen sind, aber im Grundriss bleiben sie genau so stehen, wie sie von Anfang an waren, wehren sich sogar ein Stück weit gegen Veränderung, im Zweifel wüsste man auch gar nicht, wie man sie umschreiben sollte ohne das Gerüst einzureißen. Diese Texte sind wie Lieblingssongs, die man über Jahre anhören kann ohne dass sie sich abnutzen würden.

Viel zu viel Vorrede für einen ziemlich kurzen Text, der sich nicht umschreiben ließ:


Studie in Anthrazit

Nur einen Monat. Vielleicht wenn wir mehr gehabt hätten, etwas mehr als einen angebrochenen Sommer in der Stille Colorados. Vielleicht wären wir dann mehr gewesen, mehr wie wir und weniger wie Shakespeares Helden, zermürbt zwischen Mühlen.
Keine Bilder von Liebe. Nur vereinbarte Unzulänglichkeit, still fließend im Schatten. Wir ließen uns schweigen für jetzt, Hand in Hand, aber immer knapp vorbei, vorbei an Verständlichkeit. Und das Glimmen in meinem Mund, wie ein unregelmäßiges rötliches Atmen. Meine Asche auf ihrem Kleid. Brandlöcher, die seltsam klaffen. Polyesterreste, kalter Stoff an meiner Haut. Ich wollte mich in Wolle festkrallen, dickfasrig und kratzig, aber warm dafür. Ich wollte müde sein dürfen. Benzingetränkte Luft. Die Wolken schlugen Wellen im Blau, und ihre Augen waren blinde Stürme.
„Das wars also“ sagte ich und sie nickte nur, mit einem heimlichen Blick Richtung Uhr, aber es war immer gleich spät, und wir wussten beide, dass man bei Abschieden nichts richtigmachen kann, nur schon existente Gräben verbreitern. Und unserer reichte bis knapp hinter den Horizont und dann noch ein Stückchen weiter, weit genug jedenfalls, um mit gutem Gewissen jeden noch so kleinen Hoffnungssplitter aus dem Kopf zu operieren. Aber sie, sie hatte die Hoffnung in ihrem Blick vergessen, neu gemischt mit stiller Wut und Fragen, aber ich, ich war schon lange nur noch müde, viel zu müde für Erklärungen.
Das warme Kratzen im Hals, blauer Rauch schwärmte die Bronchien hinab, ich drückte die abgebrannte Zigarette am Bordstein aus und schnippte sie weg, griff hastig nach meiner Tasche. Ein leises Zischen in der Nähe, hydraulisches Atmen und staubende Reifen. Ein grauer Streifen im Augenwinkel, kleiner werdend. Die Leute starrten uns längst an wie ausgestellt, hinter ihren talgverschmierten Plexiglasscheiben verschanzt. Der Busfahrer warf seinen leeren Pappkaffeebecher weg und stieg ein. Ihre Hand zuckte leicht bei dem Geräusch des aufflackernden Motors, ein zittriges Grollen aus blechernem Bauch. Verkrampfte. Ihr Puls in meiner Hand. Ich versuchte zu lächeln, und ließ es schnell wieder sein.
„Schätze, es geht los“, sagte ich leise.
„Nein“, sie schüttelte langsam den Kopf ohne mich anzusehen „nein, alles hört auf“

Abblätternder Lack, darunter nackter Rost. Sie hatte ihre Haare zusammengebunden. Ihre Grübchen fast verstrichen. Ich ließ ihre Hand los. Wir umarmten uns, ihr müder Kopf an meinem Kinn, die feuchten Wimpern wie ein zartes Schlagen von Schmetterlingsflügeln an meiner Haut, zwei Zentimeter schräg rechts über meinem Brustbein. Ich atmete sie ein letztes Mal ein. Ihr Haar roch wie kalt gewordener Kaffee, schal und bitter. Wir küssten uns nicht, nicht mal flüchtig auf die Wangen wie gute Freunde, als hätten wir unsere Rollen am Ende nur zurückgetauscht, nein, wir lösten uns wie Fremde aus einer überstürzten Umarmung. Ich stieg ein. Der Bus fuhr an, während ich noch durch die Reihen nach hinten ging. An der Ausfahrt sah ich sie ein letztes Mal, schräg von oben, halb im Profil. Sie hob eine Hand zum Winken, ließ sie steif wieder sinken. Ich schloss die Augen und machte sie erst wieder auf, als ich sicher war, dass wir längst auf der Autobahn sind. Die Stadt zeichnete sich anthrazitfarben in der Ferne ab und die Sonne taumelte im Sinken schräg in den Bus hinein ohne Wärme zu spenden. Ich legte den Kopf an die Scheibe und bevor ich einschlief, sah ich gerade noch, wie die Welt draußen hinter den Gebirgen Stück für Stück im Blau ertrank, so viel schneller als sonst.



Montag, 21. November 2016

Ein Anfang, mein Anfang



Nachdem Bernhard mich eingeladen hat hier mitzuwirken, tue ich das selbstverständlich mit Freuden und Verspätung. Zu meiner Persönlichkeit möchte ich gar nicht zu viel sagen, da es hier anscheinend mehr um so etwas wie Literatur gehen soll. Mal schauen, ob ich da mithalten kann...

Sollte es trotzdem jemanden interessieren:
www.fabianbader.de
oder Facebook: Fabian Bader




Nun zu meinem Text:

Oft komme ich auf die dumme Idee alte Texte ein Jahr später nochmals anzuschauen. Nicht selten werde ich dann von einem Fremdschämen auf diesen jüngeren, mir nun so fern erscheinenden Fabian überwältigt und lösche das Dokument. Ein normaler Dienstag.
Den nun folgenden Text betrachte ich jedoch anders. Zwar würde er nie wieder so aus meiner Tastatur auf dem Bildschirm erscheinen, doch war dieser Texte der erste mit dem ich so etwas wie öffentliche Aufmerksamkeit erhaschen konnte. Damals die PULS-Lesereihe gewinnen...
Deshalb offenbare ich euch nun, von eigener Nostalgie verblendet, ein frühes Schaffen und ihr dürft entscheiden mit wie viel Scham ich das zukünftig wieder tun sollte.



#Bachelor of Hearts


Früher war das hier Heimat. Heute streichen sich gerade volljährig gewordene Hipster gegenseitig ihre Dreitagebärte und werfen sich über den Kicker lauthals Beleidigungen zu, die keiner mehr genau versteht. #Lifestyle
Eigentlich fühle ich mich nicht alt, doch so umzingelt von zwanzigjährigen Freigeistern, die noch zwei Semester brauchen, bis sie ihren BWL-Bachelor endlich in der Tasche haben, tragen die roten Lampions des Clubs schwer zu einer melancholischen Stimmung bei. Über mein genaues Alter rede ich ungern, doch sagen wir so: wenn eine Frau meine Wohnung über der ehemaligen alten Filmbühne nicht findet, ist sie eindeutig zu jung für mich. Trotzdem habe ich noch kein abgeschlossenes Studium oder bin gar einer dieser motivierten Mitzwanzigerdozenten. Dafür weiß ich, wie peinlich es ist, sich in einer Studentenkneipe über die Zitrone in seinem Gin-Tonic zu beschweren und nenne die Bib nicht mehr Philosophicum II. Letztes Semester hat mich so ein kleines Mädchen wirklich gefragt: „Könnte Sie mir bitte den Weg zum Philosophicum II beschreiben?“ In der Situation war ich dann so erschlagen von dem Sie, ihrer Kindlichkeit und dem Kontakt zu Frauen im Allgemeinen, dass ich der Orientierungslosen nur stammelnd empfohlen habe, eine dazu passende App zu suchen. Ob es die gibt, weiß ich nicht. Keine Glanzstunde meiner Schlagfertigkeit jedenfalls, obwohl ich sogar einige Semester Rhetorik studiert habe. Aber, das ist eben der Unterschied zwischen Uni und dem #Reallife.
Gerade als ich mit dem Thema abschließen möchte und einen großen Schluck aus meinem Gin-Tonic nehme, fällt mir wieder ein, was ich vor kurzem in der Welt gelesen habe: über die Hälfte der Arbeitgeber sind mit den frisch angestellten Bachelorabsolventen unzufrieden. Diese bringen zu wenig work experience mit. Neben der Tatsache, dass Wörter wie work experience nichts in der deutschen Sprache zu suchen haben, bin ich der festen Überzeugung, die Arbeitgeber vermissen eher so etwas wie Lebenserfahrung bei den Anfang Zwanzigjährigen. Aber die können sie gar nicht haben, wenn man ein Jahr Gymnasium streicht, den Wehrdienst abschafft und versucht die Kürzung der Regelstudienzeit durch den freiwilligen Erwerb von Softskills auszugleichen. Ich persönlich besitze keine zertifizierten Softskills und in dunklen Stunden, auf meinen späten Heimwegen durch die schmalen Gässchen Regensburgs, frage ich mich manchmal, ob mich das zu einem schlechten Menschen macht. #SadMoments
Nächster Gin-Tonic, neuer Gedanke: Einer dieser laissez faire Vertreter bin ich dann aber auch ganz und gar nicht. Wenn so ein Schmalspurphilosoph wie Richard David Precht wieder einmal Aufmerksamkeit braucht und ohne Ahnung vom Bildungssystem erklärt, die Universität solle auch vermitteln, eigenverantwortlich zu entscheiden, wann man faul sein darf, rege ich mich sofort furchtbar auf. Nicht nur, dass verantwortlich und faul einen Gegensatz bilden, nein, ich stelle mir dann immer vor, wie das in Deutschland aussehen würde: Ein Pflichtseminar „Wann darf ich faul sein“, geleitet von einem fünfundzwanzigjährigen Masterabsolvent mit Multiple-Choice-Test am Ende des Semester. #Bolognareform.
Nach einem letzten, abschließenden Beruhigungs-Gin-Tonic, komme ich für mich zu dem Schluss, dass weder 180 ECTS-Punkte noch eigenverantwortliches Unischwänzen ausreichen, um aus mir so einen echten Erwachsenen zu formen. Was es dafür braucht, weiß ich einfach nicht. Deshalb starre ich etwas hilfesuchende auf den Boden meines leeren Drinks, doch auch hier finde ich keine ehrliche Antwort.
Dann wird es wohl ein großes Abenteuer - mit Verlängerung der Regelstudienzeit.
#Bachelor of Hearts












Donnerstag, 10. November 2016

Amy in Iphofen - Eine Hommage

Die Ernte


Amy entwickelte einen Heißhunger, kurz bevor sie mit ihrem Kleinen schwanger wurde. Kurz bevor sie Werner zur Welt gebracht hatte, wurde Amy verrückt nach Weintrauben und verschlang Mittags die Reben - wer kann sagen, wie viele?- bis wir erwarteten, dass die Trauben zu Wein vergoren und sie torkelnd durch den Tag flog - ein Weinfest im Bauch.
Die Trauben ließen Amy nach Einbruch der Dunkelheit nervös werden, wegen ihnen dachte sie über Kinder nach und war entsetzt, als das Ei nicht abging, und eine Stimme in ihr schrie: "Amy, jetzt komm zur Besinnung, verfickte Scheiße!"
Zwei Jahre später waren wir zu Gast auf einem Weinberg. Das andere Paar war verheiratet und hatte zwei Kinder. Wir verglichen unsere Hochzeitsringe, ihrer war schöner, aber rutschte ihr vom Finger und der Juwelier versicherte ihr, man könne ihn nicht verengen, man empfahl ihr, einen neuen zu kaufen.
Die Bergers, Greta und Paul, entwickelten in gewisser Weise einen eigenen Heißhunger. Sie stellten fest, dass sie Äpfel mochten und immer wenn sie in einen Apfel bissen, machten sie ein Schauspiel daraus, als seien sie die ersten Menschen.
Zu diesen Abendessen kamen sie immer zu spät und das Personal warf ihnen böse Blicke zu und beide röchelten wie Asthmakranke.
"Auf dich, Du Muschi", sagte sie dann und hob ihr Glas.
Wir sahen ihnen von unserem Tisch aus zu, auf dem eine einsame Blume stand, die von einer flügelschlagenden Motte umkreist wurde. Es war Paul, der uns erzählte, dass die Motten nur einen Tag lang lebten.
Eines Tages spazierte ich auf den Weinberg und beobachtete die in der Abendsonne flirrenden Silhouetten, die auf den Serpentinen wanderten. Ich folgte derjenigen, die für mich von Bedeutung war, folgte ihr zu einer Aussichtsbank, sah der Frau auf der Bank zu, wie sie ihm die Hand reichte und ihn an sich zog.
Dann sah ich, wie sie aus den Schutz der Weinreben auf mich zu ging und erkannte meinen Fehler.
An diesem Abend, als wir uns die historische Gruft anschauten und rauchten, beobachtete ich Amys Gesicht, als sie von ihrem - ich möchte sagen "anderen" Leben erzählte. Ich hatte den Eindruck, dass es Paul störte, als Amy "er" sagte und ihn meinte.
Die Bergers mit ihrer moralisierenden Botschaft waren dazu bestimmt, mit dem Finger auf andere zu zeigen. Ich konnte ihnen nichts abgewinnen, sie waren zu einem Eheseminar gemeldet.
Natürlich luden sie uns ein, Sternschnuppen anzuschauen. Das war berechnend von ihm, das sah ihm ähnlich. Wir saßen am Ufer und während die anderen sich mit ihren Smartphones vertraut machten, blickten wir ertappt in das Blitzlicht. Wir schauten sie an, die Arme umeinander und wendeten uns den beiden entgegen.

Auf dem Foto scheint es, als sei mir die Kraft aus dem Körper gefahren. Ich sehe die beiden nicht an. Ich sehe nach unten, wo ein Ring im Gras liegt, ein angebissener Apfel und Kerne von Trauben, von Weintrauben. 

Mittwoch, 2. November 2016

Zwischen den Tagen

Natürlich haben wir auf die ewige Jugend geschworen, und sie am Ende jedes Mal verflucht. Immer dann, wenn wir zurückfinden mussten, zurück in irgendeinen schalen Alltag, wie aus Nestern gefallene Vogelkinder. Wir lagen zwischen grünen Wolken im Herbsttau, vom Gin im Vorbeigehen angeritzt, saßen auf Eisenbahnbrücken im letzten Licht und wussten, die Tage gehen zur Neige und die Nächte machen uns träge und trüb. Viel weiter in die Nacht, als alles schwarz und versöhnlich war und der neue Tag schon im Anschlag, brach der Regen aus den Wolken und in meiner Erinnerung ist er fast warm auf der Haut, warm und überall zugleich, neben der Dürre im Mund. Und Ella stand da, mit ihren Armen und Augen im Himmel, stand schräg über mir, so schmal und fragil, jedes Lächeln ein Tasten nach Nähe, mein Herzschlag knapp über dem Boden, kaum mehr als ein Stammeln im Dunklen. Ihre raue Pergamenthaut, nikotingealtert, über Sehnenfäden gespannt, bläuliche Venenzweige knapp unter der Haut. Ihre fehlende Mitte, in jedem Satz, der aus dem Nichts ganze Städte baut und im Nebensatz wieder einreißt. Ihre Verachtung für Routine und Gleichmäßigkeit, Ella ist einer dieser Menschen, die nicht stillhalten können, also erzählt sie alles von sich, aber konsequent in der dritten Person, kommentiert ihr eigenes Leben, ist nur still, wenn der Schlaf sie unterbricht. Irgendwann drehte sie sich um, sah mich an, sagte: "Kennst du Berlin?" und 2 Stunden später saßen wir hinter Fernbusscheiben und glitten über nachtgraue Autobahnen. Es war mein erstes Mal Berlin, aber nach einem knappen Tag waren zwei Sachen klar:
Erstens, in Berlin ist man schon Außenseiter, wenn man einen festen Job hat.
Zweitens, in Berlin ist man immer allein, immer.
Mehr muss man nicht wissen. Ella liebte die Stadt, liebte die Beliebigkeit, die Oberflächen und wie die Menschen in den Straßen der Stadt versickern. Wir saßen auf einer Mauer in Kreuzberg, rauchten schweigend Kippe um Kippe, hörten Snow Patrol, jeder mit einem Ohrstöpsel im Ohr, und schauten zu, wie die Menschen in Busse steigen, lachen, mit Smartphones streiten, auf Dates warten und versetzt werden, wie sie hoffen und zweifeln,  küssen und straucheln, sich nach dem letzten Bier vergebens zusammenreißen, sich finden und vermissen, und irgendwann kippte Ellas Kopf auf meine Schulter, ihr Haar an meinem Hals und auf halbem Weg in den Schlaf "Können wir hier bleiben, Sam? Nur für immer oder auch länger." Ihr Atmen wurde langsam und regelmäßig, ich schloß meine Augen, flüsterte "Bleiben klingt gut" und dachte 'Am Ende des Tages haben wir die gleiche ausfransende Poesie im Kopf, die gleichen Farben und Songs, dann gibt es fast nichts, was uns trennt.'

Dienstag, 25. Oktober 2016

Anfänge

Man weiß ja, was man über Anfänge sagt, aber dass es am Ende immer noch viel schlimmer ist, das sagt einem natürlich keiner. Dieses innere Sortieren, positionieren und dann nicht vollständig überflüssig klingen wollen. Aber am Schluss braucht es primär Mut und den einen Moment, in dem man "ja" sagt, egal was man anfängt, ob Beziehungen oder einen Ort für Autoren, an dem sie Ideen abladen, Perspektiven tauschen und Sätze ausprobieren, abseits von Konventionen und Kontextfetischisten. Kreativität beginnt da, wo keine Einschränkungen sie ersticken, wo Befindlichkeiten und Klischees, Prosa und Lyrik, Naivität und Authentizität nebeneinander existieren dürfen und ernstgenommen werden.
Klar, klar kann man tagelang über Proust und Mann diskutieren und kilometerweite Schachtelsätze hin und her schieben, bis jeder einen schlauen Satz aus dem Zauberberg auswendig kann, für den Fall, dass auf der nächsten Party plötzlich ein Literaturwissenschaftler auftaucht, das bringt dann aber halt keinem was, außer geheuchelter Exklusivität. Also halten wir uns an echte Themen, schreiben über die kleinen Alltagslügen, die Schrammen und Funken, das verdammte Glück und Ernüchterung, also alles, was uns treibt.

Zeit, etwas ins Rollen zu bringen

Dienstag, 11. Oktober 2016

Zum Einstieg eine Kurzgeschichte

Der Ralf hat enttäuscht gefragt, ob die Schreibbohéme nur blitzgescheites Kulturgeschwafel in ihr Moleskine kritzelt und keine Kurzgeschichten einstellt.
Dem muss gleich widersprochen werden. Natürlich werden auch Texte reingestellt!
Ich fang mal an:

Wild und lustig

Wild und lustig. Wild und lustig sind wir. Sagen sie. Sind wir. Lust. Wild. Oder so. Was weiß ich. Wenigstens am Wochenende. Immerhin. Wer weiß, wie lange noch. 
Da stehen sie an der Bar. Dort tanzen sie. Wo sind wir eigentlich? München oder Wien? Eigentlich egal. Nachts sehen alle Clubs gleich aus. Ein Typ bestellt sich Gspritzten. Wien. Eindeutig Wien. 
Wo sind die anderen? Wieder auf dem Klo. Oder auf der Tanzfläche. Jetzt schaut sie mich an. "Noch ein Cuba Libre bitte." Ich mochte immer die Freiheit, die in diesem Getränk mitschwingt. Da, schon wieder dieses Lied. "Weiß irgendwer, von wem das ist? Scheiße Mann, wer ist das?" Wanda, war das nicht diese Schlampe? Wo ist eigentlich Greta? Vielleicht bei den anderen. Es ist spät. So spät auch wieder nicht. Es ist zu spät. Nicht für die anderen. Die haben die Jugend aus Löffeln gefressen und reiben sich Augen und Nase, wie geil ihr Leben ist und feiern sich dafür. Greta kann nichts dafür. Jung und schön. Scheiß Kombination. Aber sind sie nicht alle schön, wenn sie jung sind? Ja, feiert euch und eure Jugend. Ihr könnt mich mal. 
"Greta?" Da tanzt sie, die gespreizten Finger in der Luft, die Typen um sie herum. Die anderen werden sie mal heiraten und mit ihr Kinder kriegen. Solche Sachen denke ich um diese Zeit und denke darüber nach, warum ich sowas denke. Aber schön ist sie, wenn sie tanzt. Schön in diesem künstlich blinkenden Licht der Nacht. Licht, das alles anders macht. Ich werds den andern erst morgen sagen. Greta wird's schon irgendwie erfahren. Sie wird's toll finden. Die anderen werden es nicht kapieren. Greta schon. Aber sie wird sich nichts anmerken lassen. 
Die anderen sind halt so. Bierbong, Schnaps, ab aufs Klo, dann wieder Schnaps und am Schluss nur noch die Musik, mit geschlossenen Augen tanzend, Bierflasche in der rechten Hand. Die Tschick in der linken. Früher jedenfalls. Sowas kennen die andern gar nicht mehr.
Gretas Lippenstift schmeckte immer nach Erdbeer. Das war komisch. Das ist das einzige, was komisch ist an ihr. Und dass sie trotzdem gesagt hat, ich passe gut mit Marie zusammen. Das hätte sie nicht tun brauchen. Das war überflüssig, wenn auch nett gemeint. So kurz danach. 
Die anderen haben sowas nie gesagt. Aber die denken über sowas auch nicht nach. Für die ist es normal, am Sonntag in den ICE zu kotzen, oder den Tag in verdunkelten Schlafzimmern totzuschlagen bis das Hämmern in den Schläfen matter wird. 
Ich kann sicher nicht mit meiner Cousine schlafen. Verdammter Ohrwurm. Greta hat nur bedauert, dass Zeiten sich ändern. Dass es im Winter kälter ist als im Sommer und so Sachen. Ansonsten hat sie immer gesagt, das Leben soll so bleiben, wie es ist. Am liebsten für immer. Und dann hat sie zwei Sambuca auf einmal hinunter gekippt, die leeren Schnapsgläser auf die Theke geknallt und die Kaffeebohnen auf den Barkeeper gespuckt. Sowas liebe ich an ihr. Auf sowas muss man erstmal kommen. 
Das mit den anderen, das hatte sich so ergeben. Ich war damals schon eine Weile mit Marie zusammen. Es ist nicht so, dass mir langweilig war oder so. Aber es war immer lustig mit denen. Marie war's egal. Und als es ihr nicht mehr egal war, war das mit Greta längst da und das Leben wild. Und lustig. Was auch immer das bedeutet. Und verbieten lasse ich mir schon gleich gar nichts. Ist mir doch egal, ob das altersgemäß ist, oder nicht. Und peinlich hat es sich schon dreimal nicht angefühlt. 
Greta schaut mich so komisch an. "Nein, ich grüble nicht! Ich sinniere!" Als ob das einen Unterschied machen würde. Gretas Wangen riechen nach diesem Parfum, von dem sie weiß, dass es mich wahnsinnig macht. 
Ich frage mich, was sie sagt, wenn ich es ihr sage. Ob sie sagt, sie solle es wegmachen. Ob sie ausflippt oder so. Manchmal wünsche ich es mir. 
Aber Greta ist wie die anderen. Sie nehmen mich auf, ich bin ein Teil dieser Woge, Wochenende für Wochenende. Aber wenn ein Wassertropfen fehlt, verliert die Woge nicht an Wucht. Zwei Euro in das Phrasenschwein. 
Ich kann mir noch gar nicht vorstellen, wer ich dann bin. Und dass ich nichts gecheckt habe solange. Und warum sie so lange nichts gesagt hat. Viel geweint hat sie, aber so sind sie halt, die Frauen, dachte ich mir. Greta ist nicht so. Oder gibt sich nicht so. Nicht mir. Werd es nie herausfinden. Außer sie flippt auch aus, schlägt wie wild um sich, schreit und heult und fleht. Träumerei. Scheiße so oder so. 
"Ich? Cuba Libre. Was sonst?" Greta sieht am Morgen schöner aus als am Abend. Das wollte ich ihr immer sagen. Hab's aber vergessen. Jetzt ist es zu spät. Ihre Haare liegen dann wild und zerwurschtelt über ihre Wangen. Sie schaut mich an. Den Blick kenne ich. Ich könnte kotzen. Nicht heute. Nicht dieser Blick. Wer bist du eigentlich? Sofort sind sie wieder da, die Tiefgarage, der Park und dieses Appartement, in dem es immer nach Essen roch. Nach dem Abendessen der Familie im Parterre. Es roch immer so gut, dass einen der Geruch fast mehr freute, als das, was man drinnen erhoffte. 
"Marie ist schwanger." Ich sage es, ohne irgendeine Reaktion provozieren zu wollen. Ich sage es mehr als Transport einer Information. Ich sage es zu mir selbst, falls ich es bis jetzt noch nicht begriffen habe. Ich sehe, wie die anderen mich anstarren, als hätte ich die Krätze oder sowas. 
Greta lächelt. Sie umarmt mich. Sie küsst mich auf die Wange. "Der Jonas wird Papa! Wie schön! Gratulier dir!"

Sonntag, 9. Oktober 2016

Lass uns eine Schreibbohéme gründen!

In der deutschen Literatur war die "Gruppe 47" das Maß aller Dinge. Lasst uns deshalb eine neue "Gruppe 47" gründen!
Wie bitte? Völlig meschugge geworden? 
Schau dir doch die Typen mal an: Lauter verstrahlte, komplett humorlose alte Knacker und Nobelpreisträger. Und außerdem ist das Prinzip Autorenvereinigung sowas von 1947! Nee du, das ist nix für uns. Gab's da nicht später noch was anderes, was cooleres?
Eine coole Autorenvereinigung gab's leider nie. Aber einige der coolsten Autoren machten Anfang 2000 bei einer Internetseite mit, die hieß "Wir höflichen Paparazzi". Eigentlich wurden da nur seltsame Texte über Begegnungen mit Prominenten Online gestellt. Aber die Kommentare hatten es in sich und unter Decknamen machte damals eine supertolle Truppe von Autoren mit, die bis heute noch zum Beispiel beim Bachmannpreis für Gesprächsstoff sorgen. Vor allem, weil sie den Bachmannpreis und den gesamten archaischen Literaturbetrieb sowas von auf die Schippe nahmen. Das geschriebene Wort aber gleichzeitig sehr ernst.
Gut, die waren fast alle aus Berlin, Hamburg oder Wien. 
Aber kann man nicht auch vom Chiemsee aus sowas starten? Als sich letztens ein junger Schriftsteller beklagte, dass er nie in die Großstadt ging, fragte ihn der Indietronic-Künstler vom Nachbardorf: "Wieso? Hast du kein gscheites Internet?"
Stimmt eigentlich. 
Texte über seine Schreibprojekte, über die Bücher die man liest und Blogbeiträge über die Kulturszene kann man auch von zu Hause aus in die Welt schicken. Ach so, das machst du schon seit Jahren und kaum einer liest es? Dann frag doch mal deine Autorenkumpel, ob die mitmachen möchten. Am besten so junge Autoren, die schon einen der coolen Schreibwettbewerbe gewonnen haben. Die Puls Lesereise zum Beispiel. Oder den Wortlaut. Frag doch die mal. Wenn die mitmachen, dann werden sich auch interessante Leser finden. Und unter denen ist vielleicht einer dabei, der seinerseits mitmachen möchte...
Und wer sollte da mitmachen dürfen?  Also man muss jetzt nicht den kompletten Proust gelesen haben und beim Open Mike auf die Longlist gekommen sein. Vielleicht reicht es auch schon, wenn man definitiv NICHT bei der Gruppe 47 mitmachen möchte. Gibt's die eigentlich noch?

Das Manifest der Schreibbohéme

Der erste Beitrag: Eine Kurzgeschichte!