Mittwoch, 2. November 2016

Zwischen den Tagen

Natürlich haben wir auf die ewige Jugend geschworen, und sie am Ende jedes Mal verflucht. Immer dann, wenn wir zurückfinden mussten, zurück in irgendeinen schalen Alltag, wie aus Nestern gefallene Vogelkinder. Wir lagen zwischen grünen Wolken im Herbsttau, vom Gin im Vorbeigehen angeritzt, saßen auf Eisenbahnbrücken im letzten Licht und wussten, die Tage gehen zur Neige und die Nächte machen uns träge und trüb. Viel weiter in die Nacht, als alles schwarz und versöhnlich war und der neue Tag schon im Anschlag, brach der Regen aus den Wolken und in meiner Erinnerung ist er fast warm auf der Haut, warm und überall zugleich, neben der Dürre im Mund. Und Ella stand da, mit ihren Armen und Augen im Himmel, stand schräg über mir, so schmal und fragil, jedes Lächeln ein Tasten nach Nähe, mein Herzschlag knapp über dem Boden, kaum mehr als ein Stammeln im Dunklen. Ihre raue Pergamenthaut, nikotingealtert, über Sehnenfäden gespannt, bläuliche Venenzweige knapp unter der Haut. Ihre fehlende Mitte, in jedem Satz, der aus dem Nichts ganze Städte baut und im Nebensatz wieder einreißt. Ihre Verachtung für Routine und Gleichmäßigkeit, Ella ist einer dieser Menschen, die nicht stillhalten können, also erzählt sie alles von sich, aber konsequent in der dritten Person, kommentiert ihr eigenes Leben, ist nur still, wenn der Schlaf sie unterbricht. Irgendwann drehte sie sich um, sah mich an, sagte: "Kennst du Berlin?" und 2 Stunden später saßen wir hinter Fernbusscheiben und glitten über nachtgraue Autobahnen. Es war mein erstes Mal Berlin, aber nach einem knappen Tag waren zwei Sachen klar:
Erstens, in Berlin ist man schon Außenseiter, wenn man einen festen Job hat.
Zweitens, in Berlin ist man immer allein, immer.
Mehr muss man nicht wissen. Ella liebte die Stadt, liebte die Beliebigkeit, die Oberflächen und wie die Menschen in den Straßen der Stadt versickern. Wir saßen auf einer Mauer in Kreuzberg, rauchten schweigend Kippe um Kippe, hörten Snow Patrol, jeder mit einem Ohrstöpsel im Ohr, und schauten zu, wie die Menschen in Busse steigen, lachen, mit Smartphones streiten, auf Dates warten und versetzt werden, wie sie hoffen und zweifeln,  küssen und straucheln, sich nach dem letzten Bier vergebens zusammenreißen, sich finden und vermissen, und irgendwann kippte Ellas Kopf auf meine Schulter, ihr Haar an meinem Hals und auf halbem Weg in den Schlaf "Können wir hier bleiben, Sam? Nur für immer oder auch länger." Ihr Atmen wurde langsam und regelmäßig, ich schloß meine Augen, flüsterte "Bleiben klingt gut" und dachte 'Am Ende des Tages haben wir die gleiche ausfransende Poesie im Kopf, die gleichen Farben und Songs, dann gibt es fast nichts, was uns trennt.'

3 Kommentare:

  1. ...sprachlos. Kompliment, das ist mal eine Ansage, wie dieses Blog ausschauen könnte. Danke, Matthias! Sprachlich sowieso ausgefeilt und inspirierend wie immer. Ich stehe auf die Leidenschaft, das alles oder nichts in Texten. Krass, wie viel man in einen kurzen Text reinpacken kann. Übrig bleibt nur die Frage: Kommt noch mehr? Nur ein Blitzlicht oder der Beginn eines längeren Textes? In Ella steckt enormes Potential!

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    1. Danke für das Kompliment. Ella ist vorerst Skizze, roh und kantig, aber möglich, dass sie irgendwann einen längeren Text bekommt und klare Züge annimmt.

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  2. Als wäre man selbst dabei und am Ende frei ... :)

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