Die Ernte
Amy
entwickelte einen Heißhunger, kurz bevor sie mit ihrem Kleinen schwanger wurde.
Kurz bevor sie Werner zur Welt gebracht hatte, wurde Amy verrückt nach
Weintrauben und verschlang Mittags die Reben - wer kann sagen, wie viele?- bis
wir erwarteten, dass die Trauben zu Wein vergoren und sie torkelnd durch den
Tag flog - ein Weinfest im Bauch.
Die
Trauben ließen Amy nach Einbruch der Dunkelheit nervös werden, wegen ihnen
dachte sie über Kinder nach und war entsetzt, als das Ei nicht abging, und eine
Stimme in ihr schrie: "Amy, jetzt komm zur Besinnung, verfickte
Scheiße!"
Zwei
Jahre später waren wir zu Gast auf einem Weinberg. Das andere Paar war
verheiratet und hatte zwei Kinder. Wir verglichen unsere Hochzeitsringe, ihrer
war schöner, aber rutschte ihr vom Finger und der Juwelier versicherte ihr, man
könne ihn nicht verengen, man empfahl ihr, einen neuen zu kaufen.
Die
Bergers, Greta und Paul, entwickelten in gewisser Weise einen eigenen
Heißhunger. Sie stellten fest, dass sie Äpfel mochten und immer wenn sie in
einen Apfel bissen, machten sie ein Schauspiel daraus, als seien sie die ersten
Menschen.
Zu
diesen Abendessen kamen sie immer zu spät und das Personal warf ihnen böse
Blicke zu und beide röchelten wie Asthmakranke.
"Auf
dich, Du Muschi", sagte sie dann und hob ihr Glas.
Wir
sahen ihnen von unserem Tisch aus zu, auf dem eine einsame Blume stand, die von
einer flügelschlagenden Motte umkreist wurde. Es war Paul, der uns erzählte,
dass die Motten nur einen Tag lang lebten.
Eines
Tages spazierte ich auf den Weinberg und beobachtete die in der Abendsonne
flirrenden Silhouetten, die auf den Serpentinen wanderten. Ich folgte
derjenigen, die für mich von Bedeutung war, folgte ihr zu einer Aussichtsbank,
sah der Frau auf der Bank zu, wie sie ihm die Hand reichte und ihn an sich zog.
Dann
sah ich, wie sie aus den Schutz der Weinreben auf mich zu ging und erkannte
meinen Fehler.
An
diesem Abend, als wir uns die historische Gruft anschauten und rauchten,
beobachtete ich Amys Gesicht, als sie von ihrem - ich möchte sagen
"anderen" Leben erzählte. Ich hatte den Eindruck, dass es Paul
störte, als Amy "er" sagte und ihn meinte.
Die
Bergers mit ihrer moralisierenden Botschaft waren dazu bestimmt, mit dem Finger
auf andere zu zeigen. Ich konnte ihnen nichts abgewinnen, sie waren zu einem
Eheseminar gemeldet.
Natürlich
luden sie uns ein, Sternschnuppen anzuschauen. Das war berechnend von ihm, das
sah ihm ähnlich. Wir saßen am Ufer und während die anderen sich mit ihren
Smartphones vertraut machten, blickten wir ertappt in das Blitzlicht. Wir
schauten sie an, die Arme umeinander und wendeten uns den beiden entgegen.
Auf
dem Foto scheint es, als sei mir die Kraft aus dem Körper gefahren. Ich sehe
die beiden nicht an. Ich sehe nach unten, wo ein Ring im Gras liegt, ein
angebissener Apfel und Kerne von Trauben, von Weintrauben.
Interessantes Setting, mir bleibt die Handlung teilweise etwas abstrakt, skizzenhaft angerissen, dazu relativ viele Figuren für einen vergleichbar kurzen Text, aber die symbolhafte Sprache wirkt schlüssig und passend. Guter letzter Absatz. Wer ist Amy?
AntwortenLöschenUm das Rätsel zu lösen: "Die Ernte" ist eine Kurzgeschichte von Amy Hempel. Eine mit großem Kultstatus, nach den Protagonisten wurden schon Bands benannt. Ich hab die Geschichte auf einem Weinberg in Iphofen gelesen, Tagelang darüber sinniert und auf der Rückfahrt im Zug meine eigene Version geschrieben.
AntwortenLöschen