Sonntag, 3. Dezember 2017

Der Sommer ist meine Zeit

2012 veröffentlichte ich mein zweites und drittes Buch an einem Tag. Während "Alkoholfrei" als Jugendbuch bei Schwarzkopf & Schwarzkopf erschien, wurde "Isarvorstadt" vom Unsichtbar Verlag herausgebracht. An "Isarvorstadt" habe ich jahrelang gearbeitet - eine Art "Gossip Girl" trifft "Kir Royal". Die Romane, die in München spielen, spielen in ihrem eigenen Universum aus Bars und Clubs, in denen auch Bands spielen, die nur in meinen Romanen auftreten. Aber auch reale Schauorte gibt es, wie man gleich ganz gut sehen kann. So kreuzen die Charaktere häufig für den Leser unbewusst ihre Wege - und mir macht das einen riesigen Spaß. Im Falle dieser Kurzgeschichte ist es die Mutter einer der Hauptfiguren, die als tyrannische Chefin in Erscheinung tritt ...

Der Sommer ist meine Zeit

„Heute ist so ein Tag, an dem man am liebsten zu jedem sagen würde, dass man nicht mehr hier lebt, sondern in Chicago“, gab Edith Sabatzki bekannt und starrte mit angezogenen Beinen an die Decke. Die schummrige Beleuchtung des Café Trachtenvogl passte genau zu ihrer Stimmung, gerade hell genug, um noch die eigene Hand vor Augen zu erkennen, aber so grunddunkel, dass man ihre verquollenen Augen nicht erkennen konnte.

Sie fühlte sich hohl und leer. Aufgedunsen, spröde. Etwas proletarischere Zeitengenossen hätten den Begriff „durchgefickt“ angesetzt. Edith war einfach nur gebrochen, fertig, durch.

Ihr gegenüber saß Franziska, deren Haut mal wieder mit ihren Augen und Haaren um die Wette strahlte. Wie eine verdammte Heilige. Sie liebte ihren Job als Krankenschwester und ihre Beziehung mit ihrem Freund Sören war auch die totale Erfüllung für sie. Zeitweise war dieser Anblick ihrer besten Freundin so widerlich, dass Edith zu ihrem Aperol Spritzz greifen musste, um große Züge zu nehmen.

Ein wenig fühlte sie sich wie nach dem legendären hysterischen Anfall, verursacht durch ihren Streit mit ihrem damaligen Mitbewohner, ihren ersten und einzigen, drei Wochen nach ihrem Auszug von zu Hause. Sie hatte sich so verausgabt ob seiner Dummheit und Ignoranz, dass sie stundenlang wach gelegen hatte. Danach war Edith für zwei Tage obdachlos gewesen, hatte in ihrem Wagen genächtigt, bis Franziska ihr geholfen hatte, wieder auf die Beine zu kommen. Achtundvierzig Stunden voller Angst und einer verzweifelten Existenz. Vor drei Monaten hatte Edith nun bei Hannelore Kleeblatt zu arbeiten angefangen. Die Furcht war seitdem ihr dauernder Begleiter. Ein Fehler brachte ihr eine Menge Ärger ein.

Die Wut über ihre herrische Chefin überlagerte jedoch alles, selbst die Panikattacken, die sie manchmal heimsuchten, wenn sie neben Hannelore stand, die wild auf ihren MacPro eindrückte und natürlich nicht schaffte, ihn zum Laufen zu bringen. Warum hatte man eigentlich eine persönliche Assistenz, wenn man trotzdem noch auf technischen Geräten herumdrücken wollte? Edith tippte auf puren Sadismus.

Hannelores Ausfälle waren legendär. Die harten Worte, die laute Stimme. Die Frau eines wichtigen Unternehmensconsultors war eigentlich eine Dame von Welt und benahm sich gleichzeitig wie eine böse Hexe aus einem Disney-Film.

Eigentlich klang Ediths Job ganz simpel: Besorgungen erledigen, die Pflichten im Country Club (in der deutschen Version genauso angestaubt wie in amerikanischen Filmen) für die Kleeblatts schmeißen, die ganzen Operntermine koordinieren, die Hannelore als Vorstand von diesem und jenem Kulturverband zu meistern hatte. Selbst war Edith niemals in einer Oper gewesen. Die einzigen Augenblicke, in denen Hannelore sich ihrer Assistenz erhaben fühlte, war, wenn sie abgelaufene Dallmayr Produkte an sie abtrat.

„Ich glaube, dass ich unter Agoraphobie leide“, flüsterte Edith mit tränenerstickter Stimme.

„Ach Quatsch, das ist eine Grünwaldphobie. Da muss man ja kirre werden, wenn man den ganzen Tag mit dieser Ziege verbringt“, warf Franziska ein. Franziska war die gute Seele, die jeden freien Abend für Edith da war, ob am Telefon, per E-Mail oder im Lieblingscafé der beiden. Franziska warnte Edith ununterbrochen davor, sich in ein frühes Grab zu arbeiten, doch Edith war wie ein Formel-1-Wagen – sie konnte nicht stoppen. Eine Sklavin ihres Gehalts.

„Weißt du noch, als ich diesen Unfall hatte? Ich hatte etwas geweint und mein Auto war total im Arsch und das erzähle ich ihr dann auch noch mit triefender Nase und was macht sie? Bittet mich darum, erstmal Kaffee zu holen. Natürlich, ohne ‚Bitte’ zu sagen“, Edith schüttelte den Kopf. Sie konnte sich noch ganz genau daran erinnern, wie ihr Körper nach dem Unfall gezittert hatte. Wie sie dann bei Starbucks beinahe losgeheult hatte: „Sollte diese Frau jemals mit einem Kissen erstickt in ihrem Bett vorgefunden werden, brauche ich ein echt gutes Alibi, meine Freundin.“

„Weißt du, ich verstehe einfach nicht, warum du nicht einfach gehst“, Franziska zuckte mit den Schultern, „Du warst eine der Jahrgangsbesten, hast ein super Ausbildungszeugnis. Würde mir meine Vorgesetzte im Krankenhaus nicht passen, würde ich wechseln.“

„Du kannst Krankenschwester nicht mit persönlicher Assistenz vergleichen, Fran“, Edith fuhr sich eine dicke, blonde Haarsträhne aus dem Gesicht.

Franziska hob eine Augenbraue: „Ich wische meinen Patienten den Hintern ab, du deiner Chefin. Ich finde schon.“

„Wie sieht es denn aus, wenn ich schon nach drei Monaten kündige? So nimmt mich niemals ein hochkarätiger Schauspieler … oder ein Rockstar zur Assistenz“, Edith zuckte verzweifelt mit den Schultern, „Diese Situation ist ausweglos. Zumal mir Hannelore den Kopf abreißt, wenn ich kündige. Sie hat schon die letzten zwei Assistentinnen binnen kürzester Zeit weggeekelt – natürlich, ohne sich jeder Schuld bewusst zu sein. Noch einen Wechsel wird sie nicht ertragen.“

„Also bleibst du lieber bei ihr?“, Franziska rührte mit ihrem Strohhalm in ihrer heißen Schokolade.

„Anscheinend. Du musst dich also auf fünfzehn Jahre Gejammer einrichten“, Edith trank ihr Glas in einem weiteren Zug leer und bedeutete dem Typen an der Kasse, ihr ein neues zu bringen.

„… und der leeren Versprechung, dass du sie irgendwann umbringst“, meinte Franziska zerknirscht, „Was ich ebenfalls nicht verstehe: Du nimmst die Arbeit ständig mit nach Hause. Sicher, ich kann auch nicht abschalten nach einem Arbeitstag, aber du bist ständig abrufbereit. Du hast nie Urlaub. Dafür, dass du diesen Job so hasst, machst du ihn ganz schön leidenschaftlich.“

Aber …“, Edith ließ die Beine sinken und beugte sich vor, „Ich habe mir bei meinem letzten Nervenzusammenbruch …“

„… vor zwei Wochen …“, knurrte Franziska dazwischen.

„… Besserung gelobt und deswegen habe ich in dieser neuen Münchner Stadtzeitung, Auszeit, eine Kontaktanzeige geschalten“, erklärte Edith.

Franziska hob nun beide Augenbrauen.

„Na, auf normalen Weg, in einem Club oder so, werde ich nie einen Freund finden. Ich habe ja keine Zeit zum Weggehen“, seufzte Edith. Franziska grinste und nickte: „Okay, was hast du geschrieben?“

Edith wedelte mit dem Blatt, gezogen aus ihrer Handtasche.

Jemand, mit dem ich zusammen meine Neurosen ausleben, aber mit dem ich auch gut rumknutschen kann … Editha, das klingt bezaubernd“, lachte Franziska, „Und, wer hat sich darauf gemeldet, mein liebes Anne-Hathaway-Wannabe?“

„Einen Haufen Spinner. Erst dachte ich mir, wenn ich schon den ganzen Tag in der Arbeit mit Hannelores bescheuertem Damenkränzchen Kontakt halten muss, warum sichte ich solche hirnlose Briefe in meiner Freizeit?“, Edith hob die Hände flehend gen Himmel, „Aber dann ist mir sein Brief in die Hände gefallen. Er heißt Sven.“

„Schwedische Namen sind immer gut. Wie alt?“, wollte Franziska wissen, die immerhin mit einem Sören zusammen war. Der sich wahrscheinlich gerade zu Hause darüber ärgerte, dass Franziska schon wieder Ediths Therapeutin spielte.

„Drei Jahre älter als ich, also fünfundzwanzig“, Edith kramte in ihrer zerschlissenen Lehrerinnentasche, die sie vom Flohmarkt hatte, und zog ein Bild heraus, „Das hat er mir geschickt.“

Ein junger Mann, schmal, ein fragil geschnittenes Gesicht, dazu kinnlanges, rabenschwarzes Haar und Sonnenbrille, gekleidet in American Apparel. Franziska ließ einen Bauarbeitermäßigen Pfiff los.

Ein Aperol Spritzz wurde vor Edith abgesetzt. Mit roten Wangen nahm sie den ersten Schluck und erzählte dann: „Gestern haben wir uns dann getroffen. Und er war einfach wunderbar. Wir mögen dieselbe Musik, er ist sehr belesen und spricht vier Sprachen fließend. Aber das Wichtigste: Er steht auf Kinderzeichentrickserien am frühen Morgen. Sonntag gehen wir Essen! Er lädt mich sogar ein, weil er Geld hat – aber auch nicht Hannelore-mäßig viel!“

„Das klingt zu gut, um wahr zu sein. Wo ist der Haken? Schwul, ohne dass er es weiß? Verheiratet?“, fragte Franziska skeptisch.

Edith nahm einen weiteren, kräftigen Schluck: „Er hat einen dreijährigen Sohn.“

„Oh. Daher das mit den Kinderzeichentrickserien.“


Hannelore stand am Sonntagmorgen wie immer auf dem Golfplatz. Es war wichtig, hier schon bei Morgengrauen zu erscheinen, an seinem Handicap zu arbeiten. Die Märzluft war eiskalt, aber es hatte nicht wieder geschneit. Ihr Atem zeichnete sich weiß gegen die gerade aufgegangene Sonne ab, als Hannelore den Ball ausrichtete. Sie fror nicht. Nie.

Während Edith sich über sie ausgelassen hatte, hatte Hannelore den Freitagabend mit ihrem Mann in der Oper verbracht. Daraufhin hatten Hannelore und ihr Mann Gunnar lange darüber diskutiert, ob sie bei ihrer Reise in ihr Sommerferienhaus in den Hamptons eine Woche Manhattan einlegen sollten. Gunnar war dagegen gewesen, aber Hannelore hatte sich entschlossen, ihn solange zu bearbeiten, bis auch er Lust hatte auf die architektonischen Meisterleistungen der Stadt, die niemals schlief, das Guggenheim, das Met, natürlich auch das Empire State Buildung oder das Top of the Rock.

Danach waren sie zurück in ihre Villa in Grünwald gefahren, um uninspirierten Sex zu haben. Hannelore biss im Gedanken daran die Zähne fest zusammen.

Charlotte hatte sich immer noch nicht gemeldet.

Hannelore sah es gar nicht ein, ihre Tochter anzurufen. Dieses störrische Kind sollte man nicht auch noch pampern. Sie würde schon kommen, wenn ihr danach war oder das Geld ausging. Und dann würde Hannelore weitersehen, ob sie ihr Zuneigung zeigen wollte oder nicht.

Charlotte war genauso alt wie Hannelores Assistentin, Edith Sabatzki. Natürlich war Charlotte um einiges schöner, das lag an der Kleeblattblutlinie. Ob Charlotte klüger war, konnte Hannelore nicht beurteilen. Sie hatte jetzt schon wieder vergessen, wo Edith zur Schule gegangen war, wie sie abgeschlossen hatte und was sie in ihrer Freizeit tat. Was zählte, war, dass sie in München wohnte, ein Auto besaß und immer auf Abruf bereitstand. Was anderes interessierte Hannelore nicht.

Wenn man an der Spitze der Gesellschaft stand, hatte das Volk wie Roboter zu agieren. Es war ein harter Gedanke, aber Hannelore schämte sich nicht dafür. Gunnar hatte viel gearbeitet, um jetzt mit seiner Familie in Wohlstand leben zu können. Und sie selbst hatte genug dafür getan, um in der Schickeria anerkannt zu werden. Alle anderen, die sich nicht so sehr ins Zeug gelegt hatten, nicht so abgebrüht waren, keine Ellbogen hatte, hatten zu kuschen.

Hannelore war sich sicher, dass sie ihre Trauer wegen ihrer verlorenen Tochter nicht auf ihre Assistentin übertrag. Denn sie verschwendete nicht mal einen Gedanken an Edith, als sie an diesem Morgen den Ball abschlug. Dafür war Edith nicht wichtig genug. Offensichtlich.


„Der Sommer ist eindeutig mehr meine Zeit“, bibberte Edith wenige Stunden später an diesem Sonntag. Natürlich war keiner zu erreichen, der es schaffen könnte, ihre Heizung in ihrem Schwabinger Wohnklo zu reparieren. Auch ihr Date nicht.

Ächzend ließ sich Sven neben ihr nieder: „Tut mir leid, dass deine Heizung kaputt ist.“

Edith wusste nicht genau, wann ihre Heizung ausgefallen war, weil sie endlich mal ausgeschlafen hatte, nachdem sie sich in den letzten Nächten nur zum Schlafen hatte zwingen können, um den Kopfschmerz und die Angst und die Tränen auszublenden. Sie wusste nur, dass der Schwall Wasser, der ihr bei der Morgendusche auf den Kopf gerauscht war, eisig kalt gewesen war. Edith fror grundsätzlich schnell, doch auch Sven war so bald kalt geworden, dass ihnen nur ein Rückzugsgebiet geblieben war: Das warme Bett.

„Du kannst ja nichts dafür. Du hast es wenigstens versucht“, Edith lächelte, „Das ist erst unser zweites Date und schon sind wir im Bett gelandet!“

Sven lachte. Dann wurde er ernst: „Deine Haare sind ja noch nass!“

„Tja. Sage ich ja. Der Sommer ist mir sympathischer“, meinte Edith mit aufeinanderschlagenden Zähnen.

„Komm her. Das kriegen wir schon hin“, Sven schlang seine Arme um Edith und drehte sie in die Löffelchenstellung. Er grub seine Nase in ihr noch feuchtes Haar: „Hmm… Das riecht nach Litschi.“

„Ich sollte mich fönen“, Edith versuchte sich zu befreien, „Dann können wir ins Restaurant gehen, da ist es wärmer als hier. Danke, dass du vor unserer Verabredung noch hergekommen bist, aber meine Wohnung ist ein unzumutbarer Eisklotz!“

„Beruhige dich, ich find’s nicht schlimm“, Sven hielt Edith fest, die sich unruhig drehte, „Du musst dich nicht jetzt sofort fönen. Wir müssen nicht jetzt gleich aufbrechen. Immer mit der Ruhe.“

Edith nickte und atmete tief durch. Sie sollte sich wirklich ein wenig abspannen.

„Ich fahre nächstes Wochenende mit meinen Sohn nach Österreich zum Skifahren. Magst du mitkommen? Also. Natürlich nicht als seine zukünftige Mutter, schon klar. Aber ich … hätte dich gerne dabei“, führte Sven aus und schnitt das Thema an, das Edith so geschickt versuchte, zu umgehen: Er hatte jedes zweite Wochenende das Sorgerecht für den kleinen Jonas.

Edith, die immer noch versuchte, ruhig einzuatmen, fühlte sich erst den Erstickungstod nah, aber dann hatte sie sich gefangen: „Sehr gerne.“


Österreich, das bedeutete, sie konnte getrost ihr Handy ausmachen. Wenn Hannelore jetzt etwas wollte, konnte sie zum einen eh nicht zu ihr springen, und zum anderen zog immer noch die Ausrede, dass ihr Handy keinen Service hatte. Sie befürchtete ausnahmsweise mal keinen Ärger. Irgendwann war ja mal genug. Sie war auch ein Mensch. Mit Gefühlen. Starken Gefühlen gegenüber diesen Mann mit den schwarzen Haaren … und auch gegenüber seinen kleinen Sohnemann, egal, wie wenig sie daran geglaubt hatte.

Der kleine Jonas rutschte mit glücklichem Lächeln zwischen den Erwachsenen herum. Die Kälte brannte schon so lange auf Ediths rotbackiges Gesicht, dass sie nicht mehr fror. Und überhaupt, sie dachte gar nicht an ihre tyrannische Chefin, das erste Mal seit langem. Sie dachte auch nicht an ihre kaputte Heizung und das Loch von Wohnung, das sie gemietet hatte. Sich mit Jonas zu beschäftigen, hatte dieselbe Wirkung wie ein großer, leckerer Schokokuchen. Es war unbeschwert, mit diesem kleinen Kerl Zeit zu verbringen. Gar nicht so Angsterregend, wie sie es sich vorgestellt hatte, als Sven ihr eröffnet hatte, dass er Vater war.

Und außerdem – Sven. Der jede Gelegenheit nutzte, sie zu küssen, seine Nase an ihre zu reiben, ihr die Haare aus dem Gesicht zu fahren.

Vielleicht war der Winter gar nicht so schlimm. Dieser Winter, in dem sie zum ersten Mal verliebt war und dieser Tag, an dem sie zum ersten Mal seit langem wirklich glücklich war.


An diesem Samstagabend klingelte es noch spät an der Tür der Kleeblatts. Hannelore stürmte wutentbrannt die Treppe nach unten. Das wurde auch Zeit! Sie hatte Edith hundert Mal angerufen. Vergebens. Sie brauchte jetzt dringend die Akte mit den Clubmitgliedern! Dass diese natürlich in ihrem Büro lag, dort, wo sie immer lag, das interessierte Hannelore nicht.

Mit einer spitzen Bemerkung auf den Lippen für die Person draußen, riss sie die Tür auf. Sie erstarrte, als sie bemerkte, dass diese Person nicht Edith war. Sondern Charlotte.


Mittwoch, 5. Juli 2017

Von Stränden und Inseln

Ich hab zwar nichts von Tiefschlägen und Sternstunden im Literaturbetrieb zu erzählen, aber dafür mal wieder eine Kurzgeschichte dabei, die ich heute wieder gefunden habe als ich eigentlich Dissertation schreiben sollte. Die Geschichte ist schon ein bisschen älter, aber ich dachte mir, ich stelle sie einfach mal zur Diskussion. Also Feuer frei und Rotstift raus. Ich hab erst mal nur den ersten Teil reingestellt, weil das Ganze sonst arg lang geworden wäre. Der Rest folgt.


Teil 1: Milchblau
6 Tage Korsika. Wir gehen den Strand entlang, Füße im Meer. Da sind Jesper und ich, Clara und Ida. Clara hat dunkle, taumelnde Locken und sieht aus wie jemand, der bei guten Filmen an den falschen Stellen lacht und bei schlechten sofort einschläft. Ich schaue über das Wasser. Manchmal denke ich, es müsste irgendwas geben, da hinten am Horizont, etwas, das die Schatten auffängt, die die Menschen werfen und dann aufs offene Meer raus treiben lassen. Sowas wie einen Gott. Es ist seltsam, dass das Meer hier jeden Tag eine andere Farbe hat. Es wäre leichter, wenn es einfach immer gleich wäre, wie nachts, wenn es in der Dämmerung milchblau wird und bleibt bis es wieder hell ist. Aber tags wechselt es ständig zwischen hellgrün und türkis und tiefblau und grau.
Vor ein paar Wochen habe ich im Hafen von Nizza einen alten Fischer getroffen, draußen auf der Kaimauer, da wo man eigentlich nicht hinkommt außer man balanciert die Mauer bis zum Ende und klettert über die Absperrung. Dann kann man fast bis zum Leuchtturm laufen. Es war einer dieser Fischer, die wahrscheinlich schon immer Fischer waren und wenn sie einen Köder an den kleinen Widerhaken spießen ist das das Normalste auf der Welt, aber wenn man sie ohne das alles auf der Straße wiedertrifft, erkennt man sie nicht.
Er bemerkte mich und sagte etwas auf Französisch, das ich beim ersten Mal nicht verstand. Er sprach sehr leise und irgendwie zerrissen, er bog die Worte so, als würden ihre Silben gar nicht zusammengehören oder als müsste er sich noch entscheiden, ob es nicht doch ein anderes, besseres Wort gibt. So wie alte Leute das ständig machen, mitten im Satz innehalten, vielleicht, weil sie die Worte schon zu oft benutzt haben. Er sah mich nicht an beim Sprechen. Seine Stimme war unaufgeregt und rau. Er sagte: „Es gibt ein altes Sprichwort unter Fischern. Es heißt: Das Meer vergibt dir alles, wenn du nur lange genug ins Blau schaust.“ Danach sagte er nichts mehr. Ich schaute ihn von der Seite an und er blickte weiter geradeaus aufs Meer hinaus und ich wusste, dass er sowas nicht sagt, weil es gut klingt, sondern weil er daran glaubt. Er hatte eine Narbe quer über die linke Wange, die fast sein Auge berührte und grobe, stark zerfurchte Hände mit denen er die Angel hielt.
Die anderen schlafen noch. Unser Ferienhaus liegt so hoch, dass man von oben über die Umgebung schaut: die schmale Küstenstraße, bei der an beiden Rändern der Asphalt abbröckelt, der Streifen Pinienwald und dahinter das Meer, auf dem morgens noch ein Dunst liegt, den die Nacht da regelmäßig vergisst. Ich gehe runter Richtung Strand, ziehe meine Schuhe aus und laufe barfuß weiter. Es riecht genauso, wie es früher immer im Italien roch, als wir auf dem Weg zum Meer mit verrosteten Fahrrädern durch die Wälder fuhren. Und je weiter wir fuhren, desto sandiger wurde der Boden und irgendwann war da nur noch Sand und kaum mehr Bäume, wir blieben stecken und fielen lachend um und noch im Fallen hörten wir das erste Rauschen der Wellen, die plötzlich ganz nah waren. Wenn man sich an etwas erinnert, das lange vorbei ist, ist das immer ein bisschen als würde man einen Stummfilm anschauen, und wenn man Glück hat, weiß man noch, in welchem Winkel das Licht fiel, welche Farbe der Himmel an dem Tag hatte und ob der Sand abends noch warm war unter den Füßen.
Ich suche Muscheln im nassen Sand, die faustgroßen mit Einsiedlerkrebsen, die längst ausgezogen sind, wenn man sie findet. Ich frage mich, was mit den Krebsen passiert, wenn sie ihre Häuser zurücklassen.
Es gibt Mädchen, denen man nicht entkommt. Wenn man sie das erste Mal sieht, kann man tagelang nur noch daran denken, wie ihre Haare wohl riechen, wenn man neben ihnen aufwacht.
Es ist noch ganz früh, halb sieben, vielleicht früher. Als ich durch den Wald am Strand ankomme, kann ich sehen, dass da zwei sitzen, ganz nah am Wasser, die weiße Gischt an ihren Knöcheln. Ich hinter den beiden vorbei, setze mich hundert Meter weiter auf ein Stück Treibholz und schaue übers Meer. Die Ebbe treibt kleine Wellen an den Strand. Ich denke an Claras Augen, die irgendwie heller sind als alle anderen, so als würden sie von sich aus leuchten. In meinem Kopf ist Clara eins dieser Mädchen, die einen nie küssen, aber wenn sie es doch tun, fühlt es sich an, als könnte man endlich aufhören zu warten, weil man ab jetzt nichts mehr verpasst.
Jesper und ich waren gestern Abend noch im Meer, gleich nachdem wir angekommen waren. Er sagte, er hätte eine Wette gegen sich selbst abgeschlossen und jetzt müsste er in jeden See und jedes Meer springen, egal wie kalt, und dass er es nicht ertragen würde, gegen sich selbst eine Wette zu verlieren. Also gingen wir schwimmen, samt Kleidung. Wir standen bis über die Knie im Wasser, hatten unsere Hosen nach oben gekrempelt und das Wasser war unfassbar kalt. Wir sahen uns an und fingen an zu lachen, während wir uns umdrehten und zitternd zurück Richtung Strand liefen. Jesper und ich kannten uns davor noch kaum, aber sowas ändert sich verdammt schnell, wenn man gemeinsam bescheuerte Dinge tut.
Als ich zum Ferienhaus zurückkomme sitzen die drei gemeinsam auf der Terrasse und frühstücken und hören Bruce Springsteen. Nachmittags fahren wir zusammen an einen verlassenen Strand in einer kleinen Bucht, die wir beim Vorbeifahren von der Straße aus entdeckt haben. Ich laufe alleine ein Stück den Strand entlang und schwimme dann so weit raus, wie ich mich gerade noch traue und dann langsam wieder zurück.  Jesper winkt. Ich steige aus dem Wasser, gehe zu den anderen und lasse mich fallen, zurück in den Sand, der warm ist vom Tag. Die stillgelegten Vulkane im Rücken schließe ich die Augen zu und denke an Clara, die zwei Meter rechts von mir liegt, weil es so verdammt schwer ist, es zu lassen. Dann mache ich die Augen wieder auf, stütze mich auf die Ellbogen und schaue auf die Felsen vor der Küste, Sardiniens Skizze in der Entfernung, denke, wenn die Brandung nachlässt und ich genügend Luft übrighabe, schwimme ich rüber und warte, bis mich jemand suchen kommt. Jesper fragt, ob alles okay ist bei mir, weil ich so still bin, manchmal. Ich sage „klar, Mann, alles blendend“ und setze mich auf. Irgendwer hat mal zu mir gesagt: „solange du ehrlich zu dir selbst bist, kannst du die anderen ruhig anlügen“
Als ich mich umdrehe, sehe ich Claras Locken im Profil, die ihr ins Gesicht wehen, und für einen Moment bin ich froh, dass sie ihr Lächeln verdecken, weil ich mich wie ein kleiner dummer Junge darin fühle. Sie dreht sich zu mir. Ich lächle. Wir reden. Clara sagt, sie habe Probleme mit Entscheidungen, aber ich glaube, sie meint Anfänge. Und im Grunde sind wir uns ähnlich, weil ich immer alles will und am Ende nichts bleibt, wofür ich mich entscheiden kann. Ich grabe meine Füße in den Sand und erzähle ihr Geschichten aus meiner Jugend, die allesamt erfunden sind. Ihre Augen sind weit weg, wenn ich spreche und meine Sätze voller Schwindel und reißen irgendwann einfach ab. Sie schaut mich verwirrt an, dann zuckt sie mit den Schultern und dreht sich zu Ida.
Ich setze meine Sonnenbrille wieder auf, obwohl die Sonne jetzt fast weg ist, und höre Otis Redding. Ich habe stundenlang mit Jesper geredet, gestern Abend. Über Liebe und warum nie etwas hält, egal wie sehr man es versucht. Er sagt, obwohl er mich erst einen Tag kennt, glaube er, ich würde vielleicht immer mutige Sachen anfangen, weil er bescheuert nicht sagen will und weiß, dass die Wahrheit vergleichsweise egal ist. Ich friere. Der Wind fährt über den Sand in meine Augen, der Himmel sieht aus, als hätte Gott dreckige Wolkenreste zusammengekehrt. Jesper sagt, man müsste sich öfter sicher sein im Leben, dann gäbe es weniger Geheule im Nachhinein.
Wir fahren alle zusammen mit dem Mietwagen ins Landesinnere, das heißt ich fahre und der Rest hat Todesangst, weil ich in Kurven gerne die Gegenspur mitbenutze. Im Radio läuft irgendwas von Coldplay und immer wenn der Refrain einsetzt, singt Jesper ein paar Zeilen mit. Die Straße läuft in engen Schleifen das Gebirge hinauf und wir reden über existentielle Sachen wie Sternzeichen. Clara sagt, sie habe gelesen, dass Skorpione entweder mit anderen Skorpionen können oder mit Krebsen, weil Krebse viel zu nett sind, um scheiße zu sein. Clara lacht etwas zu schrill und wenn wir uns anschauen, dann nur ganz kurz, weil meine Blicke jedes Mal nie standhalten. Ida sitzt neben Clara auf der Rückbank und hält Vorträge über die Gefahren von Gebirgsstraßen und zählt Statistiken zu den häufigsten Todesursachen im Straßenverkehr auf. Ida ist ziemlich schlecht darin, zu verstecken, dass sie unheimliche Angst hat, aber zwischendurch lächelt sie tapfer. Jesper und ich sind uns sicher, dass sie die Statistiken alle erfunden hat, aber wir sind uns auch einig, dass man ihr das in diesem Zustand auf gar keinen Fall sagen kann. Irgendwann wird es still. Draußen beginnt es zu dämmern und plötzlich schüttet es von einer Sekunde auf die nächste wie aus Eimern. Blitze in der Ferne, die Scheibenwischer, die kaum noch funktionieren und die Straße, die immer schmäler wird. Jesper neben mir strahlt abenteuerlustig und sagt „Umkehren is nicht, wir sind voll auf Kurs“, packt eine Wanderkarte von 1973 aus dem Handschuhfach, murmelt willkürlich Namen von Gebirgspässen vor sich hin und tut so, als hätten wir uns nicht seit eineinhalb Stunden gnadenlos verfahren. Clara schweigt die meiste Zeit, hält dabei heimlich Idas Hand und liest einen Korsika Reiseführer. Als sie einmal kurz aufschaut, sagt sie, an der Westküste gebe es diese roten Felsen, so rot, das sähe fast schon unnatürlich aus, die müsste man unbedingt gesehen haben, das sei einer dieser Marco-Polo-Insider-Tipps. Ich schaue in den Rückspiegel, wir sehen uns an, dann schaue ich schnell wieder nach vorne auf die Fahrbahn und sage nichts außer „Schade“, weil unser Ferienhaus an der Ostküste liegt und heute unser letzter Tag ist.

Montag, 19. Juni 2017

Erster Einbruch ins Establishement des Literaturbetriebes

Ja, selbst ich war nicht immer ein Schreibbohéme, der coole Autor, der Titel wie "Kleinstadtrebellen" schrieb. Auch ich wollte einmal dazugehören: Zu den großen Literaten, anerkannt als echter Schriftsteller. Mit nichts im Gepäck außer der Selbstdarstellungssucht und einem Laptop reiste ich nach Schrobenhausen zu einer gewissen Lisa. Bei Lisa handelte es sich nicht um die Spargelkönigin, sondern um eine nicht weniger attraktive Sommerakademie für Schreibende, organisiert von einem gewissen Arwed Vogel. Ich kannte Herrn Vogel nicht, ich kannte keinen der Dozenten, ich wollte einfach nur dazugehören zu den Schriftstellern. Der Kurs von Norbert Niemann wäre meine erste Wahl gewesen. Niemann wohnte immerhin im Nachbardorf. Was er so schrieb wusste ich nicht. War auch egal, weil sein Kurs leider voll war. Also schrieb ich mich bei einer Ursula Krechel ein.
In der schier unerschöpflichen Hoffnung, als sensationelles Literaturgenie entdeckt zu werden und viele junge Autorenkollegen/innen kennenzulernen, reiste ich nach Schrobenhausen. Ich denke, es ist kein großer Spoiler zu verraten, dass mein Durchbruch noch auf sich warten lässt und ich das Alter der anderen Teilnehmer - wie es mir noch viele Male passieren sollte, um einen Jahrzehntbetrag im mittleren einstelligen Bereich unterschritt.
Die Werkstatt an sich wiederum war sensationell gut. Schon  nach wenigen Minuten kaufte die charismatische Schreibdozentin mir sämtlichen Schneid ab, als sie die ersten vorgetragenen Texte der Autorenkolleginnen virtuos und schonungslos in die Tonne der Belanglosigkeit pfefferte. Als es gleich im ersten Text um eine Beschreibung des "Garten meines Lebens" ging und ich mir die imaginäre Pistole des Grauens längst an die Schläfe gehalten hatte, überraschte mich Frau Krechel also mit schneidender Textkritik und der vernichtenden Beurteilung: "Dies ist keine Erzählung." Was es dem überambitionierten Nachwuchsautor nicht gerade leichter machte, hatte ich etwa was besseres in der Tasche stecken? Ich versteckte mich in der Gruppe, was nicht so schwer war, weil anscheinend alle Schriftsteller an Selbstdarstellungssucht leiden und sich die anderen weiterhin mit Begeisterung ans Schafott begaben.
Am dritten Tag stellte Frau Krechel eine an sich lapidare Schreibaufgabe, die wiederum in mir einen Schreibprozess auslöste, der mich bis heute fasziniert. Sie gab mehrere Schreibszenarien in Form eines kurzen Absatzes vor. 
Unter anderem folgenden: 

Der Sommer war lang und staubig, ein Sommer, in dem die verschwitzte Bettwäsche dauernd gewechselt werden musste. Oder bildete er sich das ein? Oder bildete er sich ein, er wünschte sich solche Wechsel, weil er diesen Sommer mit einem früheren verwechselte?

Was hättet Ihr aus der Vorgabe gemacht? Ich war mit dem Vorsatz gekommen, seriös zu schreiben, gänzlich auf alle Texte die etwas mit Subkultur, Popliteratur, Alkohol und Frauen zu tun hatte zu verzichten. Doch nach Tagen intellektueller Debatten im krassen Gegensatz zur Lebenswirklichkeit der studentischen WG in der ich in Schrobenhausen untergebracht war, begann etwas in mir zu brodeln. War es nicht die wilde, die leidenschaftliche Literatur die ich als gut empfand? Wollte ich wirklich "große Literatur" erschaffen und somit alle meine Leser die ich schätzte in ein Koma der Langeweile versetzen?
Während eines frühmorgendlichen Laufens entlang der Paar ins "Goachad", des Naturschutzgebietes entlang der Paar, setzte sich ein Szenario zusammen, das alle Themen die mich in diesem Lebensabschnitt bewegten, beinhaltete: Ein Junge der in zwei Mädchen verliebt war, einen Sommer lang zu viel trank und nach wilden Partys am Ufer des Flusses bald beide Mädchen nicht mehr auseinanderhalten konnte: Alles verschwamm. 
Um das Verschwimmen anzudeuten, fügte ich Ursula Krechels Satz an den Beginn jedes Unterkapitels der Erzählung. 
Drei Stunden hämmerte ich auf meine Tastatur ein und am Nachmittag musste ich vortragen. Ursula Krechel korrigierte jedes Adjektiv das nicht treffend war und meine Niederlage episch. Es war eine schlecht dahingerotzte Geschichte. Aber es war meine Geschichte. MEINE! Und ich war verliebt in sie! Die Geschichte, meine ich.
Und das allerseltsamste war, dass nach zwei Tagen des Überarbeitens Ursula Krechel den Text gelten ließ. Keine Vernichtung, keine Tonne. Ich trug "Paartanz" am letzten Abend im illuminierten Pflegschloss von Schrobenhausen vor und fühlte mich ein erstes Mal wie ein anerkannter Schriftsteller. Und was machte der nun anerkannte Jungautor? Ging er mit Norbert Niemann und Arwed Vogel an die Bar, um über Manierismus zu plaudern? Ließ er sich von Ursula Krechel für seinen leidenschaftlichen Vortrag loben? Nein, er machte einen stillen Abgang, betrank sich erst mit dem Gratis ausgeschenkten Sekt, schaute dem intellektuellen Establishement noch eine Weile verwundert und achselzuckend zu und flüchtete schließlich mit seinen Kumpels auf das Schrobenhausener Volksfest, wo es wenigstens ein gescheites Bier gab. In der gleichen Nacht beschloss er, die "Kleinstadtrebellen" fertig zu schreiben.
Ach ja, Jahre später hat mir Arwed übrigens gesteckt, dass Ursula Krechel damals eine "literarische Begabung" in mir gesehen hätte. Da traute ich mich aber nicht mehr, ihr zu schreiben. Denn inzwischen hatte sie den Deutschen Buchpreis gewonnen und ich hatte nach Lektüre einiger ihrer Gedichte begriffen, was für ein literarisches Großkaliber der Kleinstadtrebell damals kennenlernen durfte...


So, was waren Eure größten Sternstunden oder größten Katastrophen als Jung-Autor? Verzählt's mal! 

Mittwoch, 24. Mai 2017

Mein erster Internationaler Handtuchtag


Mein erster Internationaler Handtuchtag

Mein Freund Alex ist Gitarrist in einer Punkband. Nach einem seiner Krachmacher-Konzerte, saßen wir in unserer Stammkneipe auf den fleckigen Polstermöbeln im blauen Dunst des Zigarettenqualmes. Vermutlich hatte sich der DJ im Tabakpäckchen geirrt, als Alex sich bei den Klängen von Aquarius plötzlich zu mir drehte und fragte: “Kommste mit zum Internationalen Handtuchtag?”

Meine linke Skeptiker-Augenbraue zog sich unweigerlich nach oben.

Ich war gerade dabei, die zweite Flasche Rotwein zu öffnen und fragte schon etwas benommen: “Muss es eigentlich für alles einen Internationalen Tag geben? Tag der Bäume – o.k., Kindertag – o.k., Kusstag – wenn´s sein muss. Aber jetzt auch noch einen Feiertag für Handtücher?” Ich seufzte.

“Es gibt sogar einen Internationalen Tag der Jogginghosen”, erklärt er mir.

“Ach was!”, staunte ich.

“Der ist am 21. Januar, der Jogginghosentag”, fügte er hinzu.

Meine linke Skeptiker-Augenbraue wollte sich gar nicht mehr senken. “Versteh mich nicht falsch”, lallte ich beschwingt vom Wein, “Handtücher sind eine tolle Erfindung. Ich meine, was würde ich ohne ein Handtuch machen, wenn ich nass aus der Dusche steige?”

“Eben”, stimmte Alex zu, “und ich sag dir eins: Handtücher sind eine der ältesten Erfindungen der Menschheit.”

“Ach ja?”, fragte ich desinteressiert.

“Klar, das erste Handtuch war aus Blättern und wurde von einem Steinzeitmenschen erfunden.”

Ich nickte beeindruckt und dachte: Der Alex ist echt ein schlaues Kerlchen. Zumindest nach zwei Flaschen Wein.

“Aber eigentlich ist der Handtuchtag der Gedenktag für Douglas Adams. Wird überall auf der ganzen Welt gefeiert, sogar hier bei uns in der Provinz”, er schaute mich erwartungsvoll an.

Ich überlegte einen Moment und dann fiel es mir ein: “Ach, der Typ, der “Per Anhalter durch die Galaxis” geschrieben hat?”

“Genau!”, bestätigte Alex zufrieden grinsend. “Ein Handtuch ist für jeden Anhalter absolut überlebenswichtig! Und es hat einen hohen psychologischen Wert!”, dozierte er.

“So so”, entgegnete ich zweifelnd. Der hohe psychologische Wert erschloss sich mir im Moment nicht. “Und was macht man an so einem Internationalen Handtuchtag?”

“Im Kurhotel bekommt man einen Pangalaktischen Donnergurgler gratis, wenn man sein Handtuch mitbringt.”

“Wow!”, entgegnete ich begeistert. “Einen Cocktail also.”

“Nicht irgendeinen Cocktail”, korrigierte er mich und zitierte mit verstellt tiefer Stimme aus dem Buch: “Der beste Drink, den es gibt, ist der Pangalaktische Donnergurgler. Die Wirkung ist so, als werde einem mit einem riesigen Goldbarren, der in Zitronenscheiben gehüllt ist, das Gehirn aus dem Kopf gedroschen.”

Ich kicherte albern: “Hört sich ja verlockend an, so ein Goldbarren auf dem Kopf!”

Also stießen wir mit der nächsten Flasche Wein auf alle Weltraum-Reisenden und den Pangalaktischen Donnergurgler an, den wir uns am nächsten Samstag und zwar dem 25.Mai gratis genehmigen würden. Auf dem Heimweg streckten wir albern lachend unsere elektronischen Daumen in die Luft, in der Hoffnung, dass uns ein Raumschiff mit irren Außerirdischen auflesen würde. Dabei grölten wir aus voller Kehle „Völlig losgelöst von der Erde schwebt das Raumschiff“ und „Ich düse, düse, düse im Sauseschritt“…

Am nächsten Samstagnachmittag stand ich im Bad vor dem Spiegel und überlegte: Hatte er gesagt, dass ich das Handtuch nur mitnehmen soll, oder musste ich es mir umbinden? Meine Erinnerungen an die Krachmacher-Nacht waren nur noch vage. Wenn ich mir das Badetuch über die Jeans und die Bluse band, sah das etwas seltsam aus. Aber um den Hals gelegt war es auch nicht besser. Immerhin musste ich ein ganzes Stück durch die Stadt gehen. Ich könnte das Tuch natürlich einfach in meine Handtasche stecken und erst kurz vor dem Eingang des Kurhotels rausholen. Aber vielleicht traf ich ja in der Stadt noch andere Handtuchträger? Dann würde ich die Science Fiction Fans gleich erkennen, sinnierte ich und probierte verschiedene Varianten aus. Was trägt man bloß zu einem Handtuch? Eigentlich nichts. Man bindet es sich nur um, wenn man nackt ist, überlegte ich. Aber nackt durch die Stadt gehen, nur mit einem Handtuch bekleidet? Ich versuchte Alex zu erreichen, aber sein Handy war ausgeschaltet. Ach, was soll´s! Dann eben nackt. Das Handtuch war schließlich groß genug, um es mir umzubinden und die entscheidenden Stellen knapp zu verhüllen. Und welche Schuhe? Zum Handtuchlook würden Badelatschen besser passen, aber mit diesen alten Latschen in der Bar des Kurhotels? Da kamen mir doch Zweifel. Also wohl besser die neuen High-Heels. Noch schwieriger als die Schuhfrage war allerdings die Frage nach der passenden Handtasche. Was trägt frau bloß zum Zebrahandtuch?

Kaum zwei Stunden später, nach reiflichen Überlegungen vor dem Spiegel zum passenden Outfit, verließ ich meine Wohnung also im Zebrahandtuch, schwarzen Stöckelschuhen und einer weißen Lederhandtasche von Gucci. Für einen Tag Ende Mai war es erstaunlich kalt und regnerisch. Statt der Handtasche wäre ein Regenschirm besser gewesen. Ich war mit Alex in einer halben Stunde im Hotel an der Bar verabredet und lief selbstbewusst los. Einige Passanten warfen mir merkwürdige Blicke zu, als ich in meinem Anhalter-Look durch die Fußgängerzone stolzierte. Ich hielt Ausschau nach anderen Handtuchträgern, konnte aber niemanden entdecken. Ein kleines Mädchen rief: “Mami, Mami, die Frau da geht schwimmen, ich will auch baden!” Die Frau zischte dem Kind etwas zu und zog es schnell weiter. Gab es denn in der ganzen Stadt keinen einzigen Douglas Adams Fan?

Meine High-Heels klackerten über den rötlichen glatten Marmorboden der Empfangshalle des Kurhotels. Zwischen den vergoldeten Büsten und überdimensionalen Gemälden mit Stillleben an den Wänden, kam ich mir mit meinem Zebrahandtuch ziemlich klein und irgendwie fehl am Platz vor.

„Was kann ich für Sie tun?“, fragte der Mann am Tresen der Rezeption, während er weiter auf seinen Bildschirm starrte.

„Na raten Sie mal“, erwiderte ich keck und wackelte auffordernd mit der Hüfte.

Der Mitfünfziger warf mir einen flüchtigen Blick zu und fragte: “Wollen Sie zum Psychotherapeuten-Kongress?”

Ich schüttelte den Kopf: “Nein, seh ich so aus?”

Er musterte mich nun aufmerksam von Kopf bis Fuß und wiegte unschlüssig seinen Schädel hin und her.

“Ich bin hier, weil ich einen Pangalaktischen Donnergurgler möchte”, half ich ihm auf die Sprünge und fügte mit Nachdruck hinzu, “gratis!”

Er starrte mich nur schweigend an.

Also wedelte ich leicht mit dem Zipfel meines Zebrahandtuchs. “Naaa?”, sah ich ihn erwartungsvoll an, “klingelt´s?”

“Mmmmhhh”, machte der Mann und fasziniert stellte ich fest, dass auch er über eine linke Skeptiker-Augenbraue verfügte, die sich nun fast bis zum Haaransatz hob, “also der Psychotherapeuten-Kongress ist im Nebengebäude.” Er deutete mit dem Zeigefinger über seine Schulter.

“Gibt es da eine Bar?”, wollte ich wissen.

Er bestätigte das und so machte ich mich schon etwas entnervt auf den Weg zum Nachbarhaus. Plötzlich kam mir ein Gedanke und ich hielt inne: Gab es womöglich diesen Internationalen Handtuchtag überhaupt nicht? War ich nur wieder auf einen von Alex Witzen reingefallen? So wie damals in der Grundschule, als er behauptet hatte, man könnte ein Hühnerei mit der Nachttischlampe ausbrüten. Nach drei Stunden Dauerbestrahlung, hatte mein Kopfkissen Feuer gefangen und lichterloh gebrannt. Oder später beim Schüleraustausch in England, als er mich überredet hatte, in einen der U-Bahn Schächte zu klettern und mit meinem Lippenstift Unverschämtheiten über die Queen an die Scheibe eines Wagons zu schmieren? Das hatte die erste Verhaftung meines Lebens nach sich gezogen.

Aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Vor dem Haupteingang des Nebengebäudes stand eine Gruppe Schlips-Träger. Noch hatten sie mich nicht bemerkt. Mein Blick fiel auf eine geöffnete Terrassentür an der Seite des Gebäudes. Kurzentschlossen wählte ich den Weg quer durch die frisch bepflanzten Blumenbeete, bevor die Männer auf mich aufmerksam würden. Ich versuchte möglichst elegant nur wenige Pflanzen mit den Schuhen meiner Wahl zu durchbohren. Um Gleichgewicht bemüht stakselte ich durch die lehmige Erde, in die ich erstaunlich tief mit meinen spitzen Absätzen einsank, als ich plötzlich das Gefühl hatte, ich würde beobachtet. Wie vom Blitz getroffen blieb ich für einen Moment stehen, drehte meinen Kopf in Zeitlupe dem riesigen Panoramafenster zu, vor dem ich stand und starrte durch die Scheibe. Gefühlte hundert Gesichter hatten sich mir zugewandt. Ich bemühte mich in meinem Zebrahandtuch ganz normal zu wirken, grüßte kurz mit einem leichten Nicken und versuchte dabei nicht über die Beetbegrenzung zu fallen. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass einige der Leute mir freundlich zuwinkten und mitfühlend lächelten.

Endlich und etwas außer Atem, erreichte ich mit erdverschmierten Stöckelschuhen und braunen Spritzern bis an die Knie die Terrassentür. Alex saß in Jeans und kariertem Hemd alleine in der hintersten Ecke des Tresens. Aus seiner Brusttasche lugte ein schmaler winziger Frotteestreifen hervor, der noch kleiner als ein Waschhandschuh war.

“Wie siehst du denn aus?”, begrüßte er mich grinsend.

“Halt bloß den Mund!”, rief ich verärgert und hätte ihm am liebsten meine weiße Gucci-Handtasche um die Ohren geschlagen. Der Barkeeper war einer seiner Bekannten und versuchte sich gar nicht erst das Lachen zu verkneifen.

“Komm, Süße, nimm erstmal einen Drink”, sagte Alex schließlich versöhnlich und schlug mit der Hand auf die schwarze Sitzfläche des Barhockers neben sich.

“Ich will nicht irgendeinen Drink!”, entgegnete ich trotzig den Tränen nahe, “ich will einen 1A Pangalaktischen Donnergurgler!”

“Bin schon dabei was auszuprobieren”, beschwichtigte der Barkeeper. Vor sich hatte er bei verschiedenen Flaschen mit Hochprozentigem bereits die Deckel abgeschraubt und begann die Getränke wild durcheinander zu mixen. Nach Goldbarren mit Zitronenscheiben sah das nicht aus. Dennoch ließen wir uns nicht lange bitten und versuchten dem Geheimnis des Pangalaktischen Donnergurglers auf die Spur zu kommen. Wir ließen uns von der Zutatenliste aus “Per Anhalter durch die Galaxis” inspirierten und fachsimpelten, wie das wohl zu übersetzen sei: Eine Flasche alten Janx-Geist, ein Teil Wasser aus den Meeren von Santraginus V, drei Würfel arkturanischen Mega-Gin (ohne dass das Benzin darin verfliegt), vier Liter fallianisches Sumpfgras, ein Teil qualaktinischen Hyperminz-Extrakts, ein Zahn eines algolianischen Sonnentigers, ein Spritzer Zamphuor und eine Olive.

„Die Oliven sind leider aus“, sagte der Barkeeper bedauernd.

Schon bald gesellten sich Teilnehmer des Psychotherapeuten Kongresses zu uns. Sie schienen alle sehr verständnisvoll für Alex Ausführungen zum Internationalen Handtuchtag zu sein und lauschten ihm mit aufmerksamen durchdringenden Blicken, auch wenn ich mir nicht ganz sicher war, ob sie die tiefe Bedeutung dessen, was wir hier taten, wirklich ergründeten. Eine Hommage auf Douglas Adams und alle Weltraum-Reisenden und die, die es gerne werden wollten. Wir waren auf einer Mission!

Später haben wir die offizielle Feier für den Internationalen Handtuchtag doch noch gefunden. Sie fand nicht im Kurhotel, sondern im Parkhotel ein paar Straßen weiter statt. Aber Alex und ich fühlten uns nicht mehr in der Lage hinzugehen, weil uns so schlecht war, außerdem war mir ein Absatz an meinen schicken erdigen High-Heels abgebrochen und wieder einmal stützten wir uns gegenseitig nach Hause. Ich im Zebrahandtuch, für das Alex mir vorsorglich eine Sicherheitsnadel an der Rezeption besorgt hatte, nachdem es in einem Moment der Unachtsamkeit beinahe bis zum Boden gefallen wäre und bei einigen Therapeuten für verstärkten Speichelfluss gesorgt hatte. Alex mit meiner weißen Gucci-Handtasche um den Hals baumelnd. Am nächsten Morgen fühlte ich mich tatsächlich so, als hätte mir einer mit einem Goldbarren in Zitronenscheiben gewickelt auf den Kopf geschlagen. Seitdem ist der 25.Mai als fester Feiertag in meinem Kalender markiert.

Und um es mit den Worten von Douglas Adams zu sagen: „Das hier ist eine verdammt harte Galaxis. Wenn man hier überleben will, muss man immer wissen, wo sein Handtuch ist!“
(Aus: "Alex von der Krachmacher-Band" - Meike K.-Fehrmann)



Montag, 22. Mai 2017

Die Inspirationsschreiber

Wie entsteht eigentlich Literatur? Jaja, durch Talent und harte Arbeit. Soweit sind wir uns einig. Aber wie beginnt eigentlich Literatur? Setzt sich der Autor hin und sagt: So, die Kasse ist leer, jetzt muss ich mal wieder einen Nobelpreis gewinnen - und haut hochmotiviert in die Schreibmaschinentasten? Oder ist da doch etwas anderes: Dieser unbestimmte Funke den manche Inspiration nennen. Der manchmal etwas mit Muse zu tun hat. Oder mit Muße, die man ebenfalls haben muss. Ja, ich oute mich jetzt mal als schrecklicher Inspirationsschreiber. Letztens gestand ich während der Schreibbohéme-Krisensitzung in Würzburg auf der Brücke dem Fabi, dass ich ein miserabler Überarbeiter bin. Jemand, der fünfhundert Seiten über weingetränkte Abende auf Mainbrücken schreiben kann, aber sobald es ums Überarbeiten geht, lieber schnell noch einen zweiten Teil der Brückenschoppen-Trilogie schreibt. 
Wer erbarmt sich also und seziert meine Texte? Ein inspirierter Autor ist ein Nichts ohne einen nüchternen Lektor. Wer rettet die Schreibbohéme?
Aber eigentlich wollte ich ja ganz was anderes erzählen: Vor einem Jahr brachen drei Wochen im Mai über mich herein, die ich zwar nicht mal dem größten Autoren-Feind wünschen würde und trotzdem haben diese drei Wochen einen Inspirations-Schalter umgelegt, der 12 Monate später immer noch pulsierend nachwirkt: 
Eine Melange aus einer Woche Barliano mit Arwed Vogel und den wilden Schriftstellern, zwei Todesfälle und eine Beerdigung sowie eine Lagerfeuer-Lesung bei einem Grassauer Literatur-It-Girl (Lititgirl - (c) by me) vermischten sich in diesem unbegreiflichen Denkorgan zu einer Melange die seitdem Erzählungen am Fließband erzeugt. Alle inspiriert von den selben Ereignisse und dennoch jede für sich völlig unterschiedlich. Ein post-ironischer Pop-Erzähler, ein lethargisch-träger unzuverlässiger und einer, der zu viel Carlos Ruiz-Zafon gelesen hat. Mal will man sich zu Viert in Schwefelquellen stürzen, dann will sich eine Adelige in Mannheim von einem Obelisken aufspießen lassen und am Ende brennen jede Menge Manuskripte, weil das unzensierte Inspirations-Geschreibe ja doch das Schlimmste auf der ganzen Welt ist.
Was wollte ich eigentlich erzählen?
Eigentlich eh nix. Deshalb hier noch ein Text, den ich geschrieben habe als ich NICHT inspiriert war:

Texte mit denen ich den Fm4 Wortlaut nicht gewonnen habe. Teil 2:

Die Secession

"Die Leute sollen ja wie irre Gold kaufen." sagte sie weil sie nicht wusste, was zu sagen war und steckte sich eine Zigarette an. "Wenn links und rechts die Banken zusammenkrachen, heißt es, sei Gold die einzig beständige Wertanlage." Sie lachte. "Glücklicherweise betrifft mich das nicht. Und wenn ich das nötige Kleingeld hätte, würd ich mir eher einen kleinen Bauernhof kaufen. Mit Hühnern, Schafen und Ziegen. Dann kann der ganze Kapitalismus von mir aus in sich einstürzen. Sein wir uns doch ehrlich, mehr als ein Dach über dem Kopf und etwas nahrhaftes zum Essen brauchen wir doch nicht. Alles andere ist doch nur zum Befriedigen der eigenen Gier und Eitelkeit da." Er nickte süffisant lächelnd und sah sie nachsichtig an. Elia verzog das Gesicht. "Ich merk schon, du nimmst mich für nicht ganz voll. Aber glaub mir, wenn das so weiter geht, wird sich jeder wünschen, einen Bauernhof zu Hause zu haben. Und die Herren Millionäre werden ihre Goldbarren aus dem Keller holen und sich damit gegenseitig die Köpfe einschlagen um auch einen Bauernhof zu bekommen. Wirst schon sehen." Ihre Augen verwandelten sich  zu Schlitzen und sie zog an ihrer Zigarette. "Sag mal, Gust, hast du eigentlich dein Kapital schon in Goldbarren umgetauscht?" sie sah ihn herausfordernd an und blies den kalten Rauch in seine Richtung. Es schwang ein stummer Vorwurf in ihrer Stimme der ihn irritierte. Aber so war sie schon immer gewesen, so hatte er sie kennengelernt und in solchen Momenten liebte er sie auf eine unbestimmte Art und Weise noch mehr. Er konnte ein zartes Lächeln nicht unterdrücken. "Meine liebe Elia." antwortete er, "Zum einen gibt es eigentlich gar keinen besseren Zeitpunkt, als gerade jetzt die so vielgescholtenen Aktien zu kaufen. Also werde ich mich hüten, wie diese anderen aufgescheuchten Hühner auf den Goldzug aufzuspringen. Das einzige Gold das ich mir gönne ist als Bestandteil meiner Uhr verarbeitet worden. Zum zweiten", fuhr er fort, "Zum zweiten geht es mir langsam aber sicher extrem auf die Nieren, dass ihr in mir nur ein wandelndes Dollarzeichen seht. Und fang bitte nicht wieder mit meiner Familie an. Du weißt genau, dass ich die Firma nicht übernehmen werde." Sie musterte ihn mit spöttischem Gesichtsausdruck. Neben der Uhr verriet seine auffällig schlampige Kombination seiner Designerkleidung, dass er wie ein Seiltänzer den Spagat zwischen zwei unterschiedlichen Welten versuchte. "Davon spricht doch auch niemand." murmelte sie mit leiser Stimme und sagte: "Weißt du, was mich trotzdem wundert?" Sie stützte ihren Kopf auf ihre Hand zwischen deren Fingern die Zigarette weiter glimmte. "Jemand wie du, der es finanziell rein gar nicht nötig gehabt hätte, findet sofort einen Verlag, landet einen Top 20 Bestseller und verdient zu allem Überfluss sogar noch an den TV Rechten." Sie sah ihn herausfordernd an: "Nicht dass ich dein Buch nicht mag. Aber schau dir den Hans an. Oder den Schöller. Die haben Texte in der Schublade, das musst selbst du zugeben, die haben Substanz, sind einfach wundervoll. Bei denen stecken Jahre an Lebenserfahrung und Weisheit komprimiert auf wenige hundert Seiten beschriebenes Papier. Seit Jahren sind die aus schierem Überlebenswillen dazu gezwungen, den Verlegern in den Arsch zu kriechen ohne auch nur den Hauch einer Chance auf eine halbwegs fair bezahlte Veröffentlichung zu bekommen." Ihre Empörung verfestigte sich in ihren weichen Gesichtszügen und sie sprach mit weit aufgerissenen Augen weiter: "Dann kommt der gut situierte Zampano aus gutem Hause daher, tauscht mit uns zwei, drei durchaus brauchbare Texte aus und was macht er dann? Wechselt von einem Tag auf den anderen seinen Schreibstil auf fürchterlichste Mainstream Belletristik, schreibt einen Liebesroman dem es zwar an Hirn mangelt, jedoch nicht an Schmalz. Denn das tropft aus allen Ecken und Kanten. Und statt diesen irrsinnigen Kitsch in einen finsteren Tresor zu sperren wo er keinen Schaden mehr anrichtet, lässt er die Beziehungen seines Papis spielen und hat innerhalb von kürzester Zeit einen bestbezahlten Buchvertrag und das halbe Land wird mit seinem Liebesschleim überschwemmt. Und da soll man nicht langsam an der Gerechtigkeit der Welt zweifeln?" Sie lachte resigniert auf und sah ihn Kopfschüttelnd an. Gust spürte, dass sich seine Brust langsam begann zusammen zu ziehen, aber er hielt ihrem Blick stand und zündete sich seinerseits eine Zigarette an. Mit Mühe setzte er erneut seinen nachsichtigen Blick auf:  "Meine liebste Elia, ich werde mich bei niemandem, auch nicht bei dir dafür entschuldigen, dass ich mit meinem Buch den Massengeschmack getroffen habe. Ich richte mein Angebot halt gemäß der Nachfrage. Mein Verleger weiß das, schließlich haben wir ja ein gemeinsames Ziel. Ich will von möglichst vielen gelesen werden, er möchte möglichst viel abkassieren. Und umgekehrt." Elia verzog das Gesicht. "Sei mir nicht bös, aber die große Masse steht halt leider oft auf so richtigen Scheißdreck." "Das nennt man Demokratie." entgegnete er und grinste hilflos.
Sie seufzte, warf ihre Zigarette auf den Boden und trat sie aus. Sie lachte nicht. "Hat dir eigentlich schon mal jemand gesagt, dass dich dein Bucherfolg zu einem noch größeren Arschloch werden lassen hat?" Mit wachsendem Entsetzen krampfte sich das Grinsen hilflos in sein Gesicht Elia verdrehte die Augen.  "Ist nicht bös gemeint, aber musste auch mal gesagt werden. Wir sehen uns." sagte sie und verschwand hinter der schweren Eisentüre im Club. Gust sah der Türe zu, wie sie sich knarrend schloss und krachend im Schloss einrastete. Etwas in seiner Brust schmerzte und er wusste nicht, ob er diesen Umstand lieben oder verfluchen sollte. Dieser Schmerz hatte ihn immerhin reich gemacht.
Elia war die Meisterin der schonungslosen Wahrheitsfindung. Ihre Kunst bestand darin die Schwachstellen der Menschen scharfsinnig zu entdecken und sie filterlos zu enttarnen, wenn sie die Notwendigkeit sah. Eine Seele von einer Person, die allein in ihrem Dasein das Gute aus ihrer Umwelt herausholte. Wenn dieses Gute, das sie wie eine Aura vor sich her trug, umkippte konnte sie sich zur kämpferischen Furie verwandeln und sie riss die Masken ab und Fassaden ein. Es machte ihr Wesen aus, dass sie dies tat, nicht ohne selbst entsetzt und verwundet zu sein, sich sofort mühte, die Schäden mit einem wohlwollenden Wort zu beheben oder gar sofort ihre Hilfe zum Wiederaufbau des alten Status Quo anbot. Dass ihre vergifteten Pfeile die sie gegen sein Buch schoss, direkt in eine offene Wunde traf, schmerzhaft und nie verheilt, das wusste sie nicht, konnte sie nicht wissen und sie hätte sich sonst jedes Wort verkniffen.
Gust stieß einen verzweifelten Laut des Lachens aus und schüttelte den Kopf. Er war allein im kühlen Wind des kommenden Frühlings. Allein mit den Geräuschen der Stadt und dem dumpfen Bass des Clubs. Er fragte sich, ob er jemals den Mut aufbrächte, ihr die Wahrheit zu gestehen. Dieses verfluchte Buch, hätte er es doch nie geschrieben. Als sollte ihn diese Erzählung, die er wie ein Getriebener innerhalb vier Wochen in einer Eile aufs Papier gefetzt hatte, als hänge sein Überleben davon ab, bis ans Ende seiner Tage verfolgen. In Kürze würde die Verfilmung auf ORF 2 gezeigt werden und der Hype aufs Neue beginnen. Mit schierem Entsetzen dachte er daran.
Dieses Buch hatte seine Zukunft auf unbestimmte Zeit pechschwarz gefärbt. Dabei entstand es in einer Zeit, die er als gut, als rein empfand und an die er sich wie an einen Rettungsanker klammerte.
Es entstand vor fast einem Jahr. Über ein Internet Netzwerk hatte er nach jungen Menschen in der Stadt gesucht, die ebenfalls schrieben. Emilia und die anderen waren eine kleine Gruppe von ambitionierten aber erfolglosen Schriftstellern, die sich zwei, drei Mal im Monat in den Cafés der Stadt traf um ihre Projekte zu diskutieren. Trotz seiner selbstbewussten Art und seinem rotzigen Schmäh die ihm zu oft als Arroganz ausgelegt wurden, nahm ihn die Gruppe herzlich und vorurteilsfrei auf.
Elia war das einzige Mädchen. Mit Anfang Zwanzig wesentlich jünger als er, verlor er sich sofort in ihrer naiven, liebenswerten Art, die Welt zu sehen. Die Welt wie er sie sah, war von Anbeginn von einer schwarzen Schickt überzogen gewesen und er und er auf der Suche nach seinem Platz darin. Gegensätze bestimmten seinen Weg, die Gesellschaft in die Gust hinein geboren wurde, stempelte ihn rasch zum Träumer und Nichtsnutz ab. Die Subkulturen in die er sich flüchtete, traten ihm gerade wegen seines Status entweder als heuchlerisch und anmaßend oder ablehnend bis feindlich gesinnt gegenüber. Er wurde zu einer jener verlorenen Seelen die nie wussten, ob jemand den Menschen Gust in ihm sah, oder die Firma Kaindl AG in die ihn das seltsame Roulette des Schicksals hineingeboren hatte. Zu bekannt war sein Nachname in der Stadt, dass man ihn nicht mit Geldscheinen, Smoking und fetten Zigarren assoziierte. Um den Fluch seiner Herkunft zu entgehen, begann er irgendwann, sich nicht mehr als Kaindl sondern als Klimt vorzustellen. Er behielt seine Initialen und genoss den Witz, da nur wenige Gesprächspartner den offensichtlich erschwindelten Namen bemerkten. Er wunderte sich nur, dass in dieser Stadt der Name Kaindl so bekannt war, dass man ihm den Klimt eher abnahm als den Kaindl und er sich hinter Klimt wie hinter einer Maske verstecken konnte. Elia durchschaute ihn sofort. "Verzähl kein Kas." sagte sie, als er sich mit Gustl Klimt vorstellte. "Dann bin ich die Adele Bloch-Bauer." antwortete sie. Gust lächelte und betrachtete sie hoffnungsvoll. Mit diesem einen goldenen Satz hatte sie ihn im Sturm erobert.
Elia ihrerseits besah sich diesen jungen Herrn schmunzelnd. "Du schaust mich an als hättet ihr einen Außerirdischen eingeladen." Sie warf einen prüfenden Blick zu ihren Kollegen und zog anerkennend die Augenbrauen nach oben. "Fesch." sagte sie und lachte in sich hinein als habe sie die unpassendste aller Bemerkungen gemacht. "Da ist schon was Wahres dran." erklärte sie, "Einen Jungbanker hatten wir nicht erwartet." Gust sah irritiert an seiner Kleidung hinab. "Ich bin kein Banker." antwortete er verwirrt. "Das war auch nur allegorisch gemeint." sagte sie und in ihr Gesicht zeichnete sich eine warmherzige Güte. "Aufgrund des Textes den du uns im Vorfeld geschickt hast, waren alle einverstanden, dich in unsere Gruppe aufzunehmen." sagte sie und blickte wie zur Bestätigung in die Runde. "Du kannst dir ja denken, dass du nicht der einzige Schreiberling in der Stadt bist und wir unsererseits behalten uns natürlich eine gewisse Exklusivität vor." Sie lachte und ergänzte: "Nicht, dass wir das nötig hätten, aber der Satz klingt einfach zu schön." Gust stimmte in das Lachen ein und fühlte sich selig wie lange nicht. "Aber wir haben Regeln." fuhr sie fort: "Keine oberflächlichen Texte über Nichtigkeiten. Das heißt vor allem", sie sah ihn mit ihren hellbraunen Augen eindringlich an: "Himmelhochjauchzender Kitsch über die Liebe oder sonstige Banalitäten sind absolutes Tabu. Verliebt sein kann jeder und drüber schreiben sowieso und das Resultat meist Mist. Nur merkt das der Autor nie, weil Liebe bekanntlich blind macht. Du hast dieses Thema in deinem Probetext bravorös umschifft, auch ohne diese Information. Bemerkenswert fand ich, dass du scheinbar belangloses erzählst und deine eigentlichen Aussagen in Allegorien wie in einem Gemälde links und rechts des Erzählfadens versteckst. Mit anderen Worten: Willkommen in unserer kleinen aber feinen Gruppe." Als alle klatschten sog Gust die unerwartete Anerkennung wie eine Droge in sich hinein und ein unbestimmtes Gefühl begann in seiner Brust zu glimmen. Er verfing sich in dem warmen Blick des Mädchens das ihm anerkennend zunickte.
Elia war ein junges Mädchen mit dunklen, wachen Augen. Ihre hellbraunen Haare hingen ihr in einem Seitenscheitel ins Gesicht, sie sah etwas jünger aus als es ihre tiefe, bestimmte Stimme vermuten ließ. Gust erkannte schnell, dass sie  bis an die Grenzen der Verletzlichkeit direkt sein konnte, zugleich aber warm und versöhnlich wenn sie diese überschritt. Ein hübsches Mädchen darüber hinaus. Gesegnet mit der Schönheit der Jugend wie viele der Mädchen die Gustls Wege bis dahin gekreuzt waren. Schön und schimmernd waren sie allte gewesen und er war mit Sicherheit der letzte Mensch auf Erden der den schönen Schein verachtete. Hinzu kam jedoch eine kleine aber entscheidende Komponente die zur Folge hatte, dass sich in Gusts Leben einiges änderte. Nämlich alles: Elia war liiert mit einem sympathischen Kerl, der Gustl zwar gerne bei seinem Nachnamen, also mit Klimt ansprach, sich aber von dessen selbstverliebten Art nicht abschrecken ließ und ein guter Zuhörer war. Dennoch wäre es beim großen Nichts geblieben und außer sporadischen Treffen in der Gruppe hätte sie nichts verbunden. Wären sich beide, Gustl und Elia, nicht auf diesem Konzert zufällig begegnet. Beide waren in einer langen Schlange vor den Toiletten eingereiht. "Ich habe gehofft, dass du auch hier bist." rief sie zu ihm hinüber. "Ich wusste nicht, dass du auf Santogold stehst." rief er zurück. "Ich bin ja auch nicht wegen Santogold da, sondern weil ich pinkeln muss." antwortete sie und die Leute um sie herum lachten herzlich. Durch einen seltsamen Umstand löste sich die Schlange vor dem Mädchen WC schneller auf und Elia verschwand winkend hinter der Tür. Als Gustl schließlich über dem Pissoir stand, hatte sich ihr Name, ihre Augen, ihre dunkle Stimme und ihr herzlicher Humor endgültig in sein Herz gebrannt. "Elia." sagte er leise zu sich und sein Nebenbisler sah ihn schräg an. In diesem Moment, als er der gelben Flüssigkeit nachsah, wie sie durch den Rinnsal in einem Loch verschwand, ahnte er bereits, dass ein goldenes Zeitalter im Leben des Gustl Kaindl angebrochen war. Sein Herz hatte auf Sehnsucht umgeschaltet und er wünschte sich nichts sehnlicher als ihr irgendwo in der Halle zwischen den tausenden Menschen wieder zu begegnen. Er würde sie suchen und wenn er dabei das gesamte Konzert verpasste.
Dazu kam es gar nicht. Sie wartete auf ihn auf dem Flur. Ihre Augen lächelten und sie zog die Mundwinkel leicht nach oben. "Hat gedauert." sagte sie und reichte ihm einladend die Hand. Er ergriff sie, um sich von ihr zurück in die Halle führen zu lassen, spürte ihre Selle wie sie durch ihre warme Haut in seine erkaltete Hand in seine Blutbahn übertragen wurde, dann ließ sie ihn wieder los. Wie zwei wissende über ein wundervolles Geheimnis sahen sie sich an und es bedarfte keines physischen Ausdrucks mehr, sie hatte ihn gewonnen und ihre warme Hand wurde zu seinem Sehnsuchtsfanal. Diese unausgesprochene Exklusivität die sie ihm in dieser kurzen Minute gewährte wog schwerer als die tausend Worte die er in den kommenden Wochen aufs Papier bringen sollte. Sie blieben das gesamte Konzert über zusammen, obwohl ihr Freund mit seinen Kumpel irgendwo am anderen Ende der Halle stand. Sie entschied sich für ihn, ließ seine Gegenwart für die eineinhalb Stunden des Konzerts für wertvoller gelten als die ihres Freundes. Sie traf die goldenen Worte die man sagt, um ein Herz zu erobern und er ließ sich still und schwärmend fallen in diese Illusion die in ihrer unerhörten Unmöglichkeit um so schöner war.
Es begannen die großen Tage im Leben des Gust Kaindl. Wie zwei heimlich Verliebte verabredeten sich beide unter dem schönen Deckmantel der Freundschaft regelmäßig und in dieser unausgesprochenen Exklusivität war es verboten, dem anderen einen Korb zu geben.
Von einer Ära spricht man, wenn ein bedeutendes Ereignis das bisherige Leben eines Menschen nachhaltig zum Besseren verändert. Bei einem goldenen Zeitalter ist es genau umgekehrt. Denn danach tritt die Dekadenz ein und es kann nur noch schlechter werden, bis es in der Apokalypse endet. Es gab einen dieser Tage an denen Gust wusste, dass er sich gerade mitten in seinem goldenen Lebensabschnitt befand.  Er hatte mit Emilia einen halben Tag lang zusammen in der Stadt verbracht. Am späten Nachmittag schlenderten sie glücklich, man möchte sagen, selig den Nachmarkt entlang.
"Klimt. Gust Klimt." fragte sie, "Was hat es mit deinem Pseudonym eigentlich auf sich." Seine Augen hellten sich auf und er sah sie aufgelöst an als habe sie ihm gerade den wunderschönsten Satz auf Erden gesagt. "Du bist die erste, die mich danach fragt." Er sah sie mit dieser hilflosen Hingebung an die er sofort mit einem süffisanten Lächeln ersetzte, als sie es bemerkte. "Dass du mich das ausgerechnet hier fragst?" Sie lächelte. "Der Naschmarkt hat etwas damit zu tun?" Gust sah sie mit großen Augen an und spürte in einem beunruhigenden Gefühl, dass sein Herz existierte. "Es hängt doch alles mit allem zusammen. Vielleicht hat uns das Leben gerade deswegen heute, hier und jetzt hierher geführt." Gust seufzte. "Weil du diesen Ort verzauberst." murmelte er kaum hörbar. Er sagte: "Es gibt in der Stadt ein paar Zufluchtsorte in denen ich mich geborgen fühle. Wo ich hingehe, wenn ich traurig bin. Oder wo ich hingehe, wenn ich glücklich bin." "Der Naschmarkt?" fragte sie, stemmte ungläubig ihre Hand in die Hüften und lachte . "Mein Papa hat mich immer dorthin mitgenommen. Ich mochte schon immer den Trubel, die Leute und die exotischen Waren." Er überlegte kurz, dann fuhr er fort: "Vielleicht liebe ich am meisten die Erinnerung. Weil ich hier einmal glücklich war. Wenn man zurückschaut, kommt einem immer alles viel schöner vor als es eigentlich war." Elia lächelte. "Jaja, die Vergangenheit malt sowieso mit goldenem Pinsel. Ist das also deine Verbindung zum alten Klimt?" "Du bist nah dran. Habt’s ihr denn in der Schule nichts gelernt? Der Klimt und der Nachmarkt gehören ja so gut wie zusammen."   Sie schüttelte den Kopf und er ging mit ihr die Häuserfassaden Richtung Innenstadt zurück. Vor dem Secessionshaus blieben sie stehen und er zeigte ihr die vergoldeten Fassaden in der die Abendsonne glänzend glitzerte. Sie sah sich das Gebäude bewundernd an. "Ist schon komisch, da bin ich in der Stadt aufgewachsen und trotzdem scheint es als sei ich jahrelang wie blind durch die Gassen gerannt. Das Haus ist mir noch nie aufgefallen. Sieht echt nach Klimt aus." "Ist auch Klimt drin." antwortete er. Sie sagte: "Ich muss gestehen, dass ich mich mit dem Klimt nie so befasst hab. Mein Ding war eher der Nitsch." Sie lachte wieder in sich hinein. "Ich hör dich förmlich, wie du sagst, geh Elia, das passt ja gar nicht zu dir. Aber das Dunkle, das Unergründliche hat mich schon immer mehr fasziniert." Sie sahen sich einen Moment lang an, dann sagte er:  "Ich mochte schon immer alles was leuchtet. Mit seinem goldenen Pinsel hat der Klimt in Natura eigentlich unhübsche Modelle wie jene Frau Bloch-Bauer in unergründlicher Schönheit auf die Leinwand gemalt. Diese aberwitzige Kombination, mit diesem teuren Material zu malen und der goldenen Hand des Malers haben etwas für die Ewigkeit geschaffen. Was würde ich geben, wäre ich ähnlich talentiert." "Ich weiß ja nicht wie du malst, aber ich finde du schreibst mit Sicherheit nicht schlechter als Klimt." Schmunzelte sie. "Ach halt die Goschn." konterte er und ein schweres Schweigen fuhr zwischen sie, während hinter ihnen die Kuppel in rötlichem Licht von der untergehenden Sonne kündete. Es war nur ein kurzer, schüchterner Kuss aber Gust musste an diesem Tag die bittere Erfahrung machen, dass ein perfekter Augenblick zwar für die Ewigkeit bestimmt ist, aber nie wieder wiederholt werden kann.
Wie nach einem Rendezvous üblich, brachte er Elia bis vor die Haustüre. Das ungeschriebene Gesetz der Exklusivität erlaubte natürlich nicht, ihn hinein zu beten. Aber es erlaubte einen flüchtigen Kuss auf ihre Wange und eine schlaflose Nacht. Gust begann in dieser Nacht zu schreiben.
Die Worte gingen ihm leicht von der Hand, Tag für Tag wuchs es Kapitel, für Kapitel an. Die Erkenntnis, dass in diesem Buch bald alles erzählt war was es zu erzählen gab, traf ihn mit voller Wucht. Als habe er nicht nur ein Buch beendet, fiel er nach dem Tippen des Schlusssatzes in eine unerklärliche depressive Lethargie. In der Runde fragte man ihn, was er derzeit schreibe. "Nichts." sagte er, trug das Manuskript wochenlang in seiner Tasche, ohne es übers Herz zu bringen, Emilia davon zu erzählen. Die Last dieses Textes in seiner Tasche schnürte ihm die Luft zum Atmen ab und als ob er sich davon die endgültige Erlösung erhoffte, beschloss er, das Buch zu veröffentlichen.
Innerhalb weniger Monate wurde das Buch von den Feuilletons verrissen und den Buchhändlern von verzweifelten Hausfrauen aus den Regalen gerissen. Der Erfolg überrannte ihn.
In der Literaturrunde schlug ihm kalte Ablehnung entgegen und man ließ ihm die Enttäuschung über den Vertrauensbruch spüren. "Du unterschreibst einen Buchvertrag und wir erfahren es erst, als deine Fresse meterhoch in den Schaufenstern hängt." schimpfte Emilia. Die anderen, die das Buch teils schon gelesen hatten, schüttelten nur die Köpfe. "Wie ist es denn so?" fragte sie. Die anderen schauten ernst. "Banal. Oberflächlich. Eine fürchterlich kitschige Liebesgeschichte. Tu dir diesen Schund lieber nicht an." Sie sprachen bereits als sei Gust gar nicht mehr anwesend.
Sie baten ihn, nicht mehr zu den Treffen der Gruppe zu erscheinen.
Als hätte er einen pechschwarzen Vertrag unterzeichnet, veränderte sich alles. Er geriet in die Marketingmühlen, wurde durch das halbe Land geschickt und er verschwand. Mit dem Ausschluss aus der Literaturgruppe verlor er auch den Kontakt zu Emilia. Als habe er ihre Exklusivität verschachert. Mit dieser Lüge, für einen Buchvertrag, für den Erfolg, die Lesereise und die pressewirksame Ankündigung der Verfilmung. Die Exklusivität war tot. Er hatte sie nicht wieder gesehen. Bis heute.
Gust blickte auf. Ihn fröstelte. Ein Auto hupte in der Ferne und das Wasser des Kanals gluckste leise. Er öffnete die Tür und ging die Treppe hinunter. Sofort schlug ihm die stickige Luft entgegen. Er zwängte sich an den Leuten vorbei und seine Augen suchten nach ihr. Er entdeckte sie auf der Tanzfläche. Umgehend war er von Tanzenden umringt, er bahnte sich seinen Weg zu ihr. Sie reckte die Hände in die Höhe und sah ihn fragend an, als sie ihn bemerkte. Wie ein regloser Fremdkörper stand er zwischen den sich rhythmisch bewegenden Körpern. Elia hielt inne und verschränkte die Arme. Er erhob die Stimme laut um die Bässe zu übertönen. "Man sollte kein Gold kaufen, weil der Goldwert starken Schwankungen unterlegen ist." rief er. Sie sah in ratlos, fast angewidert an. "Was hat das mit meinem Bauernhof zu tun?" Er verstand, dass die Antwort ihrem typischen Humor entsprach, aber ihre Augen lachten nicht. "Elia bitte." sagte er flehend und reichte ihr die Hand. Sie nahm seine Hand nicht an, folgte ihm aber in einen etwas stilleren Winkel des Clubs. Sie setzten sich auf eine Couch.
"Wie konnte es nur so weit kommen?" fragte er. Ihr Blick war traurig. "Das fragst du? Du hast ja alles was uns irgendetwas wert war, verraten und verkauft. Wir haben uns einfach getäuscht in dir. Du hast uns doch nie wirklich gebraucht und unsere Runde nur dazu genutzt, um dein aufgeblähtes Ego zu stillen." sie holte tief Luft, "Unsere Gruppe stand für schonungslose Offenheit in allen künstlerischen Dingen. Und jeder einzelne versuchte, den anderen auch in Sachen Veröffentlichung unter die Arme zu greifen. Das hat dich doch alles nie interessiert. Als ginge es dir von Anfang an nur ums Geld." "Bin ich so?" er blickte niedergeschlagen zu Boden. "Schau dich an. Jetzt trägst auf einmal Teile die so teuer sind, dass ich ein Monat lang davon leben könnt. Ich hab gelesen, du hast dir jetzt einen BMW gekauft?" "Weil ich ein zuverlässiges Auto brauche, wenn ich auf Lesereise gehe." "Einen Cabrio?" Sie hielt seinem Blick stand und schüttelte enerviert den Kopf. "Weißt du was ich glaube? Du baust dir gerade eine glitzernde Filmkulisse auf, eine Fassade die geradezu schreit: Schauts her, ich bin glücklich, mein Leben ist perfekt. Aber…" Elia suchte in seinen Augen nach irgendeiner Regung und fuhr mit leiser Stimme fort, "Aber das hat in deinem Buch ja auch schon nicht geklappt." Ihre Blicke trafen sich und sie sah ihn an wie jemand der gerade gesteht, das größte Geheimnis des anderen gelüftet zu haben. "Ja, ich habs dann doch gelesen." sagte sie. Gust's Gesicht erstarrte und er schaute reglos ins Leere. Seine Augen begannen silbern zu glitzern und eine Träne rann über die versteinerte Wange. Dann fixierte sie sein Blick wieder. Leise, mit zarter zerbrechlicher Stimme sagte er: "Ich wollte nur in deiner Nähe sein." Er rang nach Worten. "Die Zeit mit dir hat alles wertvoll gemacht. Die Jahreszeit, die Orte an denen wir waren. Du hast mich wertvoll gemacht." er sah sie mit tränenunterlaufenen Augen an. "Was hätte ich auch tun sollen? So jemanden wie dir bin ich noch nie begegnet und werde ich auch nie wieder begegnen." er räusperte sich und sprach mit etwas festerer Stimme weiter. Er lächelte resignierend als er sagte: "Glaub mir, ich hab mich umgeschaut." "Deine warme, ehrliche, herzliche Art ist etwas was meinem Leben gefehlt hat. Fehlt." ergänzte er. "Du bist das wertvollste das ich je gehabt habe." sagte er.
Ihre Pupille zog sich zusammen und sie legte eine ungewollte Schärfe in ihre Stimme: "Aber du hast mich nicht gehabt." sagte sie. "Niemand hat mich."  "Und was ist mit deinem Freund?" Elia sah mit in sich gekehrtem Blick zu Boden. "Wir sind darum so lange zusammen weil wir wissen, dass wir uns nicht gegenseitig gehören." "Warum hast du auf meine Anrufe nie reagiert?" fragte er. Ihr Blick wurde ernst und eine unbestimmte Traurigkeit zeichnete sich in ihrem Gesicht ab. "Anfangs fand ich, dass die anderen überreagierten und einfach nur eifersüchtig auf deinen Erfolg waren." sagte sie. "Dann hab ich das Buch gelesen. Scheiß auf das, was die anderen denken, es war das schönste was ich jemals gelesen habe." Sie wischte sich in einer flinken Handbewegung eine Träne aus dem Gesicht. "Hast du gedacht, ich merke nicht, dass ich mich da rauslese?" "Ich habe nur für dich geschrieben." entgegnete er matt. Ihr Gesichtsausdruck verhärtete sich. "Vielleicht wäre es dir gelungen, dass dieses schöne Märchen in Erfüllung gegangen wäre." sagte sie, "Aber du musstest ja gleich das ganze Land Anteil nehmen lassen. Und den Quatsch den du in den Interviews von dir gegeben hast, hat mir den Rest gegeben." Sie stand auf, warf ihm noch einen verzweifelten Blick zu: "Natürlich ist die Liebe banal. Aber gleichzeitig gibt es nichts Wertvolleres im Leben. Du hast meine verkauft. Steck dir dein ganzes Geld das du damit gemacht hast sonstwohin. Mir ist mein Leben zu wertvoll als dass ich es noch einmal mit dir vergeude." Sagte sie, schüttete ihm ein auf dem Tisch stehendes halbvolles Glas Cuba Libre ins Gesicht und beschloss spektakulär das letzte Kapitel seines zweiten Erfolgsromans.


Samstag, 29. April 2017

Irrwitzig verrückt

Seit Monaten eine blanke Seite im Moleskine. Die Schreibbohéme in der Schreibblockade? Oder die Ruhe vor dem Sturm?
Am 7. Mai ist Einsendeschluss vom FM4 Wortlaut. dem einzigen Schreibwettbewerb bei dem ich seit über zehn Jahren tapfer Jahr für Jahr geniale Geschichten einschicke und mir alljährlich die Watsche des Nicht-Beachtens abhole. Ja, auch dieses Jahr schreibe ich wieder fleißig. "Grell" ist das Thema. Falls die ehemaligen Wortlaut-Gewinner und Longlist-Schaffer noch mitlesen - Schöne Grüße an dieser Stelle!
Wäre doch gelacht, wenn es dieses Jahr nicht mindestens ein Schreiber/Mitleser der Schreibbohéme in die Top 10 schafft!
Sehr gerne würde ich Euch jetzt meinen 17er Text posten, aber dann wär ich ja disqualifiziert. Also poste ich etwas ganz anderes und hoffe, Ihr habt trotzdem Spaß beim Lesen: 

Irrwitzig verrückt

Ein halbverrückter, exotischer Schluckauf befällt mich. Es ist gar kein richtiger Schluckauf, weil er sich nur einmal in einer halben Stunde bemerkbar macht, dafür aber um so lauter. Die ganzen Leute in der Pizzeria schauen mich an, als hätte ich gerade einen epileptischen Anfall erlitten. Jeden Moment ruft jeder "Ist hier ein Arzt?" Aber ich lebe noch und ich habe noch eine gute halbe Stunde um aus dem Lokal zu flüchten, bevor wirklich jemand den Arzt holt.
Die feine Gesellschaft verabschiedet sich. Zwei Glaserl Wein sind genug für einen Samstag Abend und alle gähnen und freuen sich aufs Bett. Soll mir Recht sein, ich hab mir längst genug Mut angetrunken, um den Samstag zu erobern.
Weil ich fürchte, dass es sich die anderen doch noch überlegen und mich begleiten, laufe ich auf einmal davon. Hoch die Treppen vom Stadtberg. Es ist kälter als gedacht und der Optimist kleidet sich immer zehn Grad kühler als es tatsächlich ist. Am Stadtplatz ist die Hölle los. Tausende Menschen rauchen vor den Lokalen und ich muss dringend pinkeln. Da der Stadtplatz ein in sich geschlossenes Häuserensemble ist, gibt es weit und breit kein Flecken Natur, wo man ohne schlechtes Gewissen bieseln könnte. Weil die Leute schon schauen, warum ich so ungeduldig schaue, laufe ich den Stadtberg wieder runter in Richtung Au und biesle einfach am Parkplatz vor dem Reformhaus. Ist doch sowieso alles Öko, da wird sich schon keiner aufregen. Es ist immer spannend, im Schnee zu pinkeln. Weil es a) so schön dampft und es b) physikalisch faszinierend ist, wie das Eis erst langsam, dann immer schneller dahinschmelzt und man sein Urin wie einen Stempel gelb in den Schnee drückt. Amerikanische Forscher haben in Brasilien einmal Beton in einen Ameisenbau gespritzt, den dann ausgegraben und anhand der riesigen Betonkonstruktion in der Erde wahnsinnig interessante Dinge über die Ameisen herausgefunden. Man sollte eigentlich auch die gefrorenen Pinkellöcher aus dem Eis ausgraben, um anhand der verwendeten Muster den Charakter des Bieselnden zu analysieren. Meine Technik ist die, dass ich ein möglichst tiefes Loch in den Schnee biesle. Mit Namen Pinkeln hab ichs nicht so. Das Problem beim Wildbieseln ist noch das Bedürfnis, sich die Hände zu waschen. Es ist komisch, dass man das auf einem normalen WC nie hat, nur immer dann, wenn mans nicht kann. Jetzt aber weiter.
Der Eintritt ist teuer, die Musik ist laut und der Club verraucht. Es ist Wochenende. Montag bis Donnerstag Büro, Freitag bis Sonntag Boheme. Der Club wird von einer angenehmen Mischung aus jungen wilden Leuten und reiferen, jung gebliebenen Langhaarigen besucht. Man kommt sich dort nicht ganz so alt vor wie in den angesagten Clubs, wo sich selbst die jungen meist alt fühlen. Mich wundert es dann immer, wo der vielzitierte Jugendwahn geblieben ist, oder warum er nicht dorthin geht, wo es wirklich hip ist, sondern die ergrauten Jugendwahnsinnigen stur in die selben Clubs und Kneipen gehen, in die sie schon seit zwanzig Jahren gehen. Genau so ist es hier. Die Musik ist jung und darum sind auch die jungen wilden allesamt gekommen. Aber das Stammpublikum aus den Neunziger Jahren ist ebenfalls gekommen. Was sollen sie auch woanders hingehen, es ist Samstag.
Vielleicht kann man genau so das Erwachsenwerden definieren: In jungen Jahren schaut man sich die Konzerte aus der ersten Reihe aus an und hat nur Augen für die Bands und kreischt ab und an kurz vor der Ohnmacht. In den wilden Jahren ist man ganz vorne, genau in der Mitte vor der Bühne und tanzt wie ein verrückter. Je älter man dann wird, desto weiter hinten platziert man sich, desto weniger tanzt man aufgrund Ischias und Bandscheiben und so. Ganz am Schluss steht man nicht einmal mehr in der Mitte, sondern links oder rechts seitlich der Bühne, je nachdem wo die Pilsbar aufgestellt ist. Ich gehe auch schnurstracks an die Bar und hole mir einen Cuba Libre und das war dann auch die genau richtige Entscheidung!

Da steht sie, als wartet sie auf mich. Sie schaut mich an, als kennt sie mich und sie schaut genau so aus, wie ich sie mir immer vorgestellt habe. Diese Ausgeburt von Utopia. Wieso schaut sie so süß, warum trägt die genau das Kleid, das mich wahnsinnig macht und das so kurz ist, dass man ihre Arme sieht und an den Armen merkt man sowieso, ob jemand jetzt wirklich attraktiv ist, oder auch nicht. Über ihrer Brust trägt sie ein goldenes Medaillon, verdammt, muss sie denn alles richtig machen? Oder mag ich das Medaillon einfach deshalb, weil sie es trägt? Na klar, die Augen. Die Augen sowieso. Die sehen mich ja an, als wüsste sie, dass ich der Augentyp bin, der auf Augen steht. Sie hat ein ewig junges Mädchengesicht, das sicher in zehn Jahren keinen Millimeter anders aussieht, auch wenn sie dann zwar noch jung aber kein Mädchen mehr ist. 
Wir reden sofort, als sei es eine Selbstverständlichkeit, über die Gefahren des Internets und dass wir gegen unsere Eltern sowieso nicht mehr rebellieren können. Ich rede überhaupt viel und komme furchtbar gescheit vor, weil ich seit Tagen wie ein Besessener Bücher lese und mein Gehirn zudröhne mit Wissen bis es platzt. Sie sagt auch gescheite Sätze, aber sie macht sowieso alles richtig. Sie hätte auch sagen können, dass sie Rockantenne hört und ich hätte sie trotzdem vergöttert. Aber dann will sie tanzen gehen und erst jetzt bemerke ich diesen irren Altersunterschied, ich könnte ihr Vater sein, sagt man doch so gerne. Diesmal stimmts wohl. Mit dem Unterschied, dass ich mit 13 noch keinen Sex hatte. Nicht mal ansatzweise, aber das ist eine ganz  andere Geschichte und um ein Haar erzähl ich sie ihr auch, aber so wahnsinnig bin ich dann auch wieder nicht. Ich wippe mit dem Cuba Libre in der Hand und weiß natürlich, dass sie tanzen will. Also mache ich mich rar, verschwinde wieder, sie soll ihre Jugend nicht an mir verschwenden und verknallt bin ich sowieso schon also flieg, süßer Vogel Jugend.
Ich renne aufs Klo und treff dort jemanden, der viel wahnsinniger ist als ich es jemals war und kriege einen Lachanfall, weil er im Klo sitzt und auf seinen Kumpel wartet. Ich lache gar nicht deshalb, weil er auf dem Klo sitzt, sondern weil er es ist und ich verknallt bin und sowieso alles witzig finde. Er sagt, er wartet auf sein Geheimtreffen und tut furchtbar geheimnisvoll, dabei wollen sie nur einen durchrauchen und ich schrei Yeah! Und kündige an, heute alle Dummheiten mitzumachen, einfach weil Samstag ist und das Leben zu schön, als es zu zerdenken. Der Kumpel kommt, wir sitzen auf einer Couch und er schreit noch, ob ich morgen kündige und ich inhaliere und denke, ist doch scheißegal. Im nächsten Moment werde ich hysterisch, weil ich begreife, dass wir uns in einer Höhle befinden und ich rechne damit, dass jeden Moment der Fels einstürzt und uns alle bei lebendigem Leib zermalmt. Wasser tropft von der Decke und ich ducke mich, zum Glück, es ist nichts passiert. An der Bar steht die Wunderschöne und ich stelle mich zu ihr ohne was zu sagen. Das ist peinlich, aber konsequent. Sie fragt, ob wir jetzt noch was zu trinken bestellen und ich sag na Klar, aber da ist längst schon alles verloren. Da hat sie schon begriffen, wie atemberaubend sie ist und ich hau lieber ab, bevor sie es mich spüren lässt. 
Will die eine, wolln sie alle und mein großes Herz steht auf einmal vor mir und ich falle ihr um den Hals und lache sie aus, lache weil sie nicht mehr meine größte Liebe ist und amüsiere mich köstlich, dass ich mich von nun an gar nicht mehr für sie interessiere, aber sie hat keine Ahnung, die Lustige. Ich quatsche sie voll und erzähle ihr von meiner Lebenstheorie und kann ihr endlich unverblümt sagen, was ich denke und was mich halb wahnsinnig macht. Ich sag ihr, dass ich so eine seelische Sehnsucht spüre, so eine Art erotisches Heimweh und sie hält mich für verrückt, macht aber den Spaß mit und ich verwechsle total, welche Rolle ich ihr gegenüber spielen soll, hab keine Ahnung, ob ich ihr Kumpel bin, oder ihr Verliebter und weil ich sowieso ein Rollenidentätsproblem habe, stimme ich ihr zu, dass die A. dicke Tüten hat, verrate aber nicht, ob ich das jetzt toll oder nicht toll finde.
Aus den Augenwinkeln sehe ich eh die Bezaubernde, die sich auf ein Sofa gesetzt hat und gelangweilt so tut, als habe sie nichts zu tun und sie denkt wohl, ich merk das nicht und tu so, als sei ich furchtbar beschäftigt und quatsche mit der Nummer Zwei weiter und rede mich um Kopf und Kragen, bis sie mich total zu hassen beginnt und mir ins Gesicht knallt, wie sehr sie ihren Freund liebt, die alte Schlampe.
Halb verrückt vor Eifersucht haue ich ab, ohne mich von irgendeinem dieser beknackten Fabelwesen zu verabschieden. Was stellen sie denn schon dar mit ihrer Vollkommenheit und ihrem scheißverdammten Charme und ihrer irrwitzigen Schönheit? Nichts! Nicht mal in Ruhe unterhalten kann man sich mit denen, ohne dass man sich selber wie ein ungebildeter Idiot vorkommt. Ich habe genug gesehen und stürze mich hinaus in den Schnee, schmeiße mich in den Kanal und hoffe zu ertrinken, aber es ist zu wenig Wasser drin. Der Mond knallt aggressiv herunter und ich kann das im Moment überhaupt nicht haben, so fuck you moon! Schreie ich und renne nach Hause, als ob das noch irgendwas ändern würde.