Der Sommer ist meine Zeit
„Heute ist so ein Tag, an dem man
am liebsten zu jedem sagen würde, dass man nicht mehr hier lebt, sondern in
Chicago“, gab Edith Sabatzki bekannt und starrte mit angezogenen Beinen an die
Decke. Die schummrige Beleuchtung des Café
Trachtenvogl passte genau zu ihrer Stimmung, gerade hell genug, um noch die
eigene Hand vor Augen zu erkennen, aber so grunddunkel, dass man ihre
verquollenen Augen nicht erkennen konnte.
Sie fühlte sich hohl und leer.
Aufgedunsen, spröde. Etwas proletarischere Zeitengenossen hätten den Begriff
„durchgefickt“ angesetzt. Edith war einfach nur gebrochen, fertig, durch.
Ihr gegenüber saß Franziska,
deren Haut mal wieder mit ihren Augen und Haaren um die Wette strahlte. Wie
eine verdammte Heilige. Sie liebte ihren Job als Krankenschwester und ihre
Beziehung mit ihrem Freund Sören war auch die totale Erfüllung für sie.
Zeitweise war dieser Anblick ihrer besten Freundin so widerlich, dass Edith zu
ihrem Aperol Spritzz greifen musste, um große Züge zu nehmen.
Ein wenig fühlte sie sich wie
nach dem legendären hysterischen Anfall, verursacht durch ihren Streit mit
ihrem damaligen Mitbewohner, ihren ersten und einzigen, drei Wochen nach ihrem
Auszug von zu Hause. Sie hatte sich so verausgabt ob seiner Dummheit und Ignoranz,
dass sie stundenlang wach gelegen hatte. Danach war Edith für zwei Tage
obdachlos gewesen, hatte in ihrem Wagen genächtigt, bis Franziska ihr geholfen
hatte, wieder auf die Beine zu kommen. Achtundvierzig Stunden voller Angst und
einer verzweifelten Existenz. Vor drei Monaten hatte Edith nun bei Hannelore
Kleeblatt zu arbeiten angefangen. Die Furcht war seitdem ihr dauernder
Begleiter. Ein Fehler brachte ihr eine Menge Ärger ein.
Die Wut über ihre herrische
Chefin überlagerte jedoch alles, selbst die Panikattacken, die sie manchmal
heimsuchten, wenn sie neben Hannelore stand, die wild auf ihren MacPro
eindrückte und natürlich nicht schaffte, ihn zum Laufen zu bringen. Warum hatte
man eigentlich eine persönliche Assistenz, wenn man trotzdem noch auf technischen
Geräten herumdrücken wollte? Edith tippte auf puren Sadismus.
Hannelores Ausfälle waren
legendär. Die harten Worte, die laute Stimme. Die Frau eines wichtigen
Unternehmensconsultors war eigentlich eine Dame von Welt und benahm sich
gleichzeitig wie eine böse Hexe aus einem Disney-Film.
Eigentlich klang Ediths Job ganz
simpel: Besorgungen erledigen, die Pflichten im Country Club (in der deutschen
Version genauso angestaubt wie in amerikanischen Filmen) für die Kleeblatts
schmeißen, die ganzen Operntermine koordinieren, die Hannelore als Vorstand von
diesem und jenem Kulturverband zu meistern hatte. Selbst war Edith niemals in
einer Oper gewesen. Die einzigen Augenblicke, in denen Hannelore sich ihrer
Assistenz erhaben fühlte, war, wenn sie abgelaufene Dallmayr Produkte an sie
abtrat.
„Ich glaube, dass ich unter
Agoraphobie leide“, flüsterte Edith mit tränenerstickter Stimme.
„Ach Quatsch, das ist eine
Grünwaldphobie. Da muss man ja kirre werden, wenn man den ganzen Tag mit dieser
Ziege verbringt“, warf Franziska ein. Franziska war die gute Seele, die jeden
freien Abend für Edith da war, ob am Telefon, per E-Mail oder im Lieblingscafé
der beiden. Franziska warnte Edith ununterbrochen davor, sich in ein frühes
Grab zu arbeiten, doch Edith war wie ein Formel-1-Wagen – sie konnte nicht
stoppen. Eine Sklavin ihres Gehalts.
„Weißt du noch, als ich diesen
Unfall hatte? Ich hatte etwas geweint und mein Auto war total im Arsch und das
erzähle ich ihr dann auch noch mit triefender Nase und was macht sie? Bittet
mich darum, erstmal Kaffee zu holen. Natürlich, ohne ‚Bitte’ zu sagen“, Edith schüttelte
den Kopf. Sie konnte sich noch ganz genau daran erinnern, wie ihr Körper nach
dem Unfall gezittert hatte. Wie sie dann bei Starbucks beinahe losgeheult hatte: „Sollte diese Frau jemals mit
einem Kissen erstickt in ihrem Bett vorgefunden werden, brauche ich ein echt
gutes Alibi, meine Freundin.“
„Weißt du, ich verstehe einfach
nicht, warum du nicht einfach gehst“, Franziska zuckte mit den Schultern, „Du
warst eine der Jahrgangsbesten, hast ein super Ausbildungszeugnis. Würde mir
meine Vorgesetzte im Krankenhaus nicht passen, würde ich wechseln.“
„Du kannst Krankenschwester nicht
mit persönlicher Assistenz vergleichen, Fran“, Edith fuhr sich eine dicke,
blonde Haarsträhne aus dem Gesicht.
Franziska hob eine Augenbraue:
„Ich wische meinen Patienten den Hintern ab, du deiner Chefin. Ich finde
schon.“
„Wie sieht es denn aus, wenn ich
schon nach drei Monaten kündige? So nimmt mich niemals ein hochkarätiger
Schauspieler … oder ein Rockstar zur Assistenz“, Edith zuckte verzweifelt mit
den Schultern, „Diese Situation ist ausweglos. Zumal mir Hannelore den Kopf
abreißt, wenn ich kündige. Sie hat schon die letzten zwei Assistentinnen binnen
kürzester Zeit weggeekelt – natürlich, ohne sich jeder Schuld bewusst zu sein.
Noch einen Wechsel wird sie nicht ertragen.“
„Also bleibst du lieber bei
ihr?“, Franziska rührte mit ihrem Strohhalm in ihrer heißen Schokolade.
„Anscheinend. Du musst dich also
auf fünfzehn Jahre Gejammer einrichten“, Edith trank ihr Glas in einem weiteren
Zug leer und bedeutete dem Typen an der Kasse, ihr ein neues zu bringen.
„… und der leeren Versprechung,
dass du sie irgendwann umbringst“, meinte Franziska zerknirscht, „Was ich
ebenfalls nicht verstehe: Du nimmst die Arbeit ständig mit nach Hause. Sicher,
ich kann auch nicht abschalten nach einem Arbeitstag, aber du bist ständig
abrufbereit. Du hast nie Urlaub. Dafür, dass du diesen Job so hasst, machst du
ihn ganz schön leidenschaftlich.“
„Aber …“, Edith ließ die Beine sinken und beugte sich vor, „Ich habe
mir bei meinem letzten Nervenzusammenbruch …“
„… vor zwei Wochen …“, knurrte
Franziska dazwischen.
„… Besserung gelobt und deswegen
habe ich in dieser neuen Münchner Stadtzeitung, Auszeit, eine Kontaktanzeige geschalten“, erklärte Edith.
Franziska hob nun beide
Augenbrauen.
„Na, auf normalen Weg, in einem
Club oder so, werde ich nie einen Freund finden. Ich habe ja keine Zeit zum
Weggehen“, seufzte Edith. Franziska grinste und nickte: „Okay, was hast du
geschrieben?“
Edith wedelte mit dem Blatt,
gezogen aus ihrer Handtasche.
„Jemand, mit dem ich zusammen meine Neurosen ausleben, aber mit dem ich
auch gut rumknutschen kann … Editha, das klingt bezaubernd“, lachte
Franziska, „Und, wer hat sich darauf gemeldet, mein liebes Anne-Hathaway-Wannabe?“
„Einen Haufen Spinner. Erst dachte
ich mir, wenn ich schon den ganzen Tag in der Arbeit mit Hannelores bescheuertem
Damenkränzchen Kontakt halten muss, warum sichte ich solche hirnlose Briefe in
meiner Freizeit?“, Edith hob die Hände flehend gen Himmel, „Aber dann ist mir sein Brief in die Hände gefallen. Er
heißt Sven.“
„Schwedische Namen sind immer
gut. Wie alt?“, wollte Franziska wissen, die immerhin mit einem Sören zusammen
war. Der sich wahrscheinlich gerade zu Hause darüber ärgerte, dass Franziska
schon wieder Ediths Therapeutin spielte.
„Drei Jahre älter als ich, also
fünfundzwanzig“, Edith kramte in ihrer zerschlissenen Lehrerinnentasche, die
sie vom Flohmarkt hatte, und zog ein Bild heraus, „Das hat er mir geschickt.“
Ein junger Mann, schmal, ein
fragil geschnittenes Gesicht, dazu kinnlanges, rabenschwarzes Haar und
Sonnenbrille, gekleidet in American Apparel. Franziska ließ einen
Bauarbeitermäßigen Pfiff los.
Ein Aperol Spritzz wurde vor
Edith abgesetzt. Mit roten Wangen nahm sie den ersten Schluck und erzählte
dann: „Gestern haben wir uns dann getroffen. Und er war einfach wunderbar. Wir
mögen dieselbe Musik, er ist sehr belesen und spricht vier Sprachen fließend.
Aber das Wichtigste: Er steht auf Kinderzeichentrickserien am frühen Morgen.
Sonntag gehen wir Essen! Er lädt mich sogar ein, weil er Geld hat – aber auch
nicht Hannelore-mäßig viel!“
„Das klingt zu gut, um wahr zu
sein. Wo ist der Haken? Schwul, ohne dass er es weiß? Verheiratet?“, fragte
Franziska skeptisch.
Edith nahm einen weiteren,
kräftigen Schluck: „Er hat einen dreijährigen Sohn.“
„Oh. Daher das mit den
Kinderzeichentrickserien.“
Hannelore stand am Sonntagmorgen
wie immer auf dem Golfplatz. Es war wichtig, hier schon bei Morgengrauen zu
erscheinen, an seinem Handicap zu arbeiten. Die Märzluft war eiskalt, aber es hatte
nicht wieder geschneit. Ihr Atem zeichnete sich weiß gegen die gerade
aufgegangene Sonne ab, als Hannelore den Ball ausrichtete. Sie fror nicht. Nie.
Während Edith sich über sie
ausgelassen hatte, hatte Hannelore den Freitagabend mit ihrem Mann in der Oper
verbracht. Daraufhin hatten Hannelore und ihr Mann Gunnar lange darüber
diskutiert, ob sie bei ihrer Reise in ihr Sommerferienhaus in den Hamptons eine
Woche Manhattan einlegen sollten. Gunnar war dagegen gewesen, aber Hannelore
hatte sich entschlossen, ihn solange zu bearbeiten, bis auch er Lust hatte auf
die architektonischen Meisterleistungen der Stadt, die niemals schlief, das
Guggenheim, das Met, natürlich auch das Empire State Buildung oder das Top of
the Rock.
Danach waren sie zurück in ihre
Villa in Grünwald gefahren, um uninspirierten Sex zu haben. Hannelore biss im
Gedanken daran die Zähne fest zusammen.
Charlotte hatte sich immer noch
nicht gemeldet.
Hannelore sah es gar nicht ein,
ihre Tochter anzurufen. Dieses störrische Kind sollte man nicht auch noch
pampern. Sie würde schon kommen, wenn ihr danach war oder das Geld ausging. Und
dann würde Hannelore weitersehen, ob sie ihr Zuneigung zeigen wollte oder
nicht.
Charlotte war genauso alt wie
Hannelores Assistentin, Edith Sabatzki. Natürlich war Charlotte um einiges
schöner, das lag an der Kleeblattblutlinie. Ob Charlotte klüger war, konnte
Hannelore nicht beurteilen. Sie hatte jetzt schon wieder vergessen, wo Edith
zur Schule gegangen war, wie sie abgeschlossen hatte und was sie in ihrer
Freizeit tat. Was zählte, war, dass sie in München wohnte, ein Auto besaß und
immer auf Abruf bereitstand. Was anderes interessierte Hannelore nicht.
Wenn man an der Spitze der
Gesellschaft stand, hatte das Volk wie Roboter zu agieren. Es war ein harter
Gedanke, aber Hannelore schämte sich nicht dafür. Gunnar hatte viel gearbeitet,
um jetzt mit seiner Familie in Wohlstand leben zu können. Und sie selbst hatte
genug dafür getan, um in der Schickeria anerkannt zu werden. Alle anderen, die
sich nicht so sehr ins Zeug gelegt hatten, nicht so abgebrüht waren, keine
Ellbogen hatte, hatten zu kuschen.
Hannelore war sich sicher, dass
sie ihre Trauer wegen ihrer verlorenen Tochter nicht auf ihre Assistentin
übertrag. Denn sie verschwendete nicht mal einen Gedanken an Edith, als sie an
diesem Morgen den Ball abschlug. Dafür war Edith nicht wichtig genug.
Offensichtlich.
„Der Sommer ist eindeutig mehr
meine Zeit“, bibberte Edith wenige Stunden später an diesem Sonntag. Natürlich
war keiner zu erreichen, der es schaffen könnte, ihre Heizung in ihrem
Schwabinger Wohnklo zu reparieren. Auch ihr Date nicht.
Ächzend ließ sich Sven neben ihr
nieder: „Tut mir leid, dass deine Heizung kaputt ist.“
Edith wusste nicht genau, wann
ihre Heizung ausgefallen war, weil sie endlich mal ausgeschlafen hatte, nachdem
sie sich in den letzten Nächten nur zum Schlafen hatte zwingen können, um den
Kopfschmerz und die Angst und die Tränen auszublenden. Sie wusste nur, dass der
Schwall Wasser, der ihr bei der Morgendusche auf den Kopf gerauscht war, eisig
kalt gewesen war. Edith fror grundsätzlich schnell, doch auch Sven war so bald
kalt geworden, dass ihnen nur ein Rückzugsgebiet geblieben war: Das warme Bett.
„Du kannst ja nichts dafür. Du
hast es wenigstens versucht“, Edith lächelte, „Das ist erst unser zweites Date
und schon sind wir im Bett gelandet!“
Sven lachte. Dann wurde er ernst:
„Deine Haare sind ja noch nass!“
„Tja. Sage ich ja. Der Sommer ist
mir sympathischer“, meinte Edith mit aufeinanderschlagenden Zähnen.
„Komm her. Das kriegen wir schon
hin“, Sven schlang seine Arme um Edith und drehte sie in die
Löffelchenstellung. Er grub seine Nase in ihr noch feuchtes Haar: „Hmm… Das
riecht nach Litschi.“
„Ich sollte mich fönen“, Edith
versuchte sich zu befreien, „Dann können wir ins Restaurant gehen, da ist es
wärmer als hier. Danke, dass du vor unserer Verabredung noch hergekommen bist,
aber meine Wohnung ist ein unzumutbarer Eisklotz!“
„Beruhige dich, ich find’s nicht
schlimm“, Sven hielt Edith fest, die sich unruhig drehte, „Du musst dich nicht
jetzt sofort fönen. Wir müssen nicht jetzt gleich aufbrechen. Immer mit der
Ruhe.“
Edith nickte und atmete tief
durch. Sie sollte sich wirklich ein wenig abspannen.
„Ich fahre nächstes Wochenende
mit meinen Sohn nach Österreich zum Skifahren. Magst du mitkommen? Also.
Natürlich nicht als seine zukünftige Mutter, schon klar. Aber ich … hätte dich
gerne dabei“, führte Sven aus und schnitt das Thema an, das Edith so geschickt
versuchte, zu umgehen: Er hatte jedes zweite Wochenende das Sorgerecht für den
kleinen Jonas.
Edith, die immer noch versuchte,
ruhig einzuatmen, fühlte sich erst den Erstickungstod nah, aber dann hatte sie
sich gefangen: „Sehr gerne.“
Österreich, das bedeutete, sie
konnte getrost ihr Handy ausmachen. Wenn Hannelore jetzt etwas wollte, konnte
sie zum einen eh nicht zu ihr springen, und zum anderen zog immer noch die
Ausrede, dass ihr Handy keinen Service hatte. Sie befürchtete ausnahmsweise mal
keinen Ärger. Irgendwann war ja mal genug. Sie war auch ein Mensch. Mit
Gefühlen. Starken Gefühlen gegenüber diesen Mann mit den schwarzen Haaren … und
auch gegenüber seinen kleinen Sohnemann, egal, wie wenig sie daran geglaubt
hatte.
Der kleine Jonas rutschte mit
glücklichem Lächeln zwischen den Erwachsenen herum. Die Kälte brannte schon so
lange auf Ediths rotbackiges Gesicht, dass sie nicht mehr fror. Und überhaupt,
sie dachte gar nicht an ihre tyrannische Chefin, das erste Mal seit langem. Sie
dachte auch nicht an ihre kaputte Heizung und das Loch von Wohnung, das sie
gemietet hatte. Sich mit Jonas zu beschäftigen, hatte dieselbe Wirkung wie ein
großer, leckerer Schokokuchen. Es war unbeschwert, mit diesem kleinen Kerl Zeit
zu verbringen. Gar nicht so Angsterregend, wie sie es sich vorgestellt hatte,
als Sven ihr eröffnet hatte, dass er Vater war.
Und außerdem – Sven. Der jede
Gelegenheit nutzte, sie zu küssen, seine Nase an ihre zu reiben, ihr die Haare
aus dem Gesicht zu fahren.
Vielleicht war der Winter gar
nicht so schlimm. Dieser Winter, in dem sie zum ersten Mal verliebt war und
dieser Tag, an dem sie zum ersten Mal seit langem wirklich glücklich war.
An diesem Samstagabend klingelte
es noch spät an der Tür der Kleeblatts. Hannelore stürmte wutentbrannt die
Treppe nach unten. Das wurde auch Zeit! Sie hatte Edith hundert Mal angerufen.
Vergebens. Sie brauchte jetzt dringend die Akte mit den Clubmitgliedern! Dass
diese natürlich in ihrem Büro lag, dort, wo sie immer lag, das interessierte
Hannelore nicht.
Mit einer spitzen Bemerkung auf
den Lippen für die Person draußen, riss sie die Tür auf. Sie erstarrte, als sie
bemerkte, dass diese Person nicht Edith war. Sondern Charlotte.